Wie Deutschland der Toten gedenkt
Wie der Volkstrauertag wurde, was er ist: Alexandra Kaiser beschreibt die Entwicklung des "politischen Totenkults" in Deutschland, über die Jahrzehnte und mit Liebe zum Detail. Leider auch mit Liebe zum Fachjargon der Sozialwissenschaften.
"Die Leute sind verrückt", soll Bundespräsident Theodor Heuss damals gesagt habe: "Man kann doch nicht den ganzen Monat in Sack und Asche gehen." Damals – das war 1952, als nach langen Verhandlungen zwischen dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, den Kirchen und der Bundesregierung der Volkstrauertag auf einen Termin im traurigen Monat November verlegt wurde: auf den vorletzten Sonntag vor dem ersten Advent.
Das geschah gegen den heftigen Widerstand des Volksbundes, der lieber den Termin aus der Weimarer Republik beibehalten hätte: den Sonntag Reminiscere, den fünften Sonntag vor Ostern. In der frühlingshaften Zeit des Aufbruchs, was dem Volksbund angemessener erschien, hatten auch die Nationalsozialisten ihre Version zelebriert: als Heldengedenktag mit Adolf Hitler als Kranzniederleger.
1952 setzten sich aber die "Verrückten" – oder doch wohl eher die Klugen – durch, die auch vom Datum her keine Kontinuität mit dem Nazipomp wollten. Und die im Laufe der Jahrzehnte aus einem Gedenken an die Toten der beiden Weltkriege einen "Gedenktag für alle Opfer von Krieg und Gewalt" machten. Dass die Bundesrepublik dabei die Praxis der Weimarer Republik fortführte, den nationalen Trauertag von einem eingetragenen Verein, dem Volksbund, in Szene setzen zu lassen, als den "entscheidenden Kristallisations- und Knotenpunkt der kollektiven Erinnerung in Deutschland im 20. Jahrhundert überhaupt", hat sich als kluge Entscheidung erwiesen. Denn es ermöglicht eine zivile Feier im Parlament, mit einem Festredner und dem Staatsoberhaupt als Verleser der sich ständig wandelnden Totenehrung.
Alexandra Kaiser schildert das in ihrer Studie akribisch. Mit dem von der Politik Anfang der 60er-Jahre erweiterten Motto "Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft" (statt eines Gedenktages nur "für die Opfer des Krieges") war für sie "die kanonische Formel gefunden, an der sich die öffentliche Erinnerungskultur der Bundesrepublik fortan orientierte". Dazu passt, wie dezent der Staat beim Kranzniederlegen der Verfassungsorgane nur einige wenige Bundeswehrsoldaten aufmarschieren lässt – und (im Buch abgedruckt) sehr skurrile Bilder produziert, wenn die jeweiligen Bundespräsidenten und Kanzler und Präsidenten von Bundestag, Bundesrat und Bundesverfassungsgericht in der Neuen Wache tief gebückt in Reihe vor ihren Kränzen hocken und die Schleifen richten. "Stilles Gedenken (10 Sekunden)", schreibt das Protokoll vor – "Trompetensolo: ‚Der gute Kamerad‘ (40 Sekunden)". Das wirkt dann doch alles andere als militaristisch.
Alexandra Kaiser beschreibt die Entwicklung des "politischen Totenkults" über die Jahrzehnte überzeugend und mit Liebe zum Detail – und, des Öfteren, leider auch mit Liebe zur Fachsprache der Sozialwissenschaften. Für ein breiteres Publikum ist das eher nicht gedacht; aber für den historisch besonders Interessierten, der studieren möchte, "wie individuelle Trauer im öffentlichen Gedenkritual kanalisiert, modelliert und in 'Volkstrauer' transformiert wurde" – für den lohnt die Lektüre allemal. Zu beklagen ist allerdings, dass die Leser relativ wenig über den Erfinder und Ausrichter des Volkstrauertages erfahren: den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge.
Besprochen von Klaus Pokatzky
Alexandra Kaiser: Von Helden und Opfern – Eine Geschichte des Volkstrauertags
Campus-Verlag, Reihe: Campus Historische Studien, Bd.56
462 Seiten, 45 Euro
Das geschah gegen den heftigen Widerstand des Volksbundes, der lieber den Termin aus der Weimarer Republik beibehalten hätte: den Sonntag Reminiscere, den fünften Sonntag vor Ostern. In der frühlingshaften Zeit des Aufbruchs, was dem Volksbund angemessener erschien, hatten auch die Nationalsozialisten ihre Version zelebriert: als Heldengedenktag mit Adolf Hitler als Kranzniederleger.
1952 setzten sich aber die "Verrückten" – oder doch wohl eher die Klugen – durch, die auch vom Datum her keine Kontinuität mit dem Nazipomp wollten. Und die im Laufe der Jahrzehnte aus einem Gedenken an die Toten der beiden Weltkriege einen "Gedenktag für alle Opfer von Krieg und Gewalt" machten. Dass die Bundesrepublik dabei die Praxis der Weimarer Republik fortführte, den nationalen Trauertag von einem eingetragenen Verein, dem Volksbund, in Szene setzen zu lassen, als den "entscheidenden Kristallisations- und Knotenpunkt der kollektiven Erinnerung in Deutschland im 20. Jahrhundert überhaupt", hat sich als kluge Entscheidung erwiesen. Denn es ermöglicht eine zivile Feier im Parlament, mit einem Festredner und dem Staatsoberhaupt als Verleser der sich ständig wandelnden Totenehrung.
Alexandra Kaiser schildert das in ihrer Studie akribisch. Mit dem von der Politik Anfang der 60er-Jahre erweiterten Motto "Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft" (statt eines Gedenktages nur "für die Opfer des Krieges") war für sie "die kanonische Formel gefunden, an der sich die öffentliche Erinnerungskultur der Bundesrepublik fortan orientierte". Dazu passt, wie dezent der Staat beim Kranzniederlegen der Verfassungsorgane nur einige wenige Bundeswehrsoldaten aufmarschieren lässt – und (im Buch abgedruckt) sehr skurrile Bilder produziert, wenn die jeweiligen Bundespräsidenten und Kanzler und Präsidenten von Bundestag, Bundesrat und Bundesverfassungsgericht in der Neuen Wache tief gebückt in Reihe vor ihren Kränzen hocken und die Schleifen richten. "Stilles Gedenken (10 Sekunden)", schreibt das Protokoll vor – "Trompetensolo: ‚Der gute Kamerad‘ (40 Sekunden)". Das wirkt dann doch alles andere als militaristisch.
Alexandra Kaiser beschreibt die Entwicklung des "politischen Totenkults" über die Jahrzehnte überzeugend und mit Liebe zum Detail – und, des Öfteren, leider auch mit Liebe zur Fachsprache der Sozialwissenschaften. Für ein breiteres Publikum ist das eher nicht gedacht; aber für den historisch besonders Interessierten, der studieren möchte, "wie individuelle Trauer im öffentlichen Gedenkritual kanalisiert, modelliert und in 'Volkstrauer' transformiert wurde" – für den lohnt die Lektüre allemal. Zu beklagen ist allerdings, dass die Leser relativ wenig über den Erfinder und Ausrichter des Volkstrauertages erfahren: den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge.
Besprochen von Klaus Pokatzky
Alexandra Kaiser: Von Helden und Opfern – Eine Geschichte des Volkstrauertags
Campus-Verlag, Reihe: Campus Historische Studien, Bd.56
462 Seiten, 45 Euro