Wie der Osten schmeckte

Rezesiert von Heike Schneider |
Die Berliner Publizistin Jutta Voigt, bekannt für ihre Reportagen in "Zeit" oder "Freitag", lässt in zwei Hauptgängen die 50er, 60er Jahre mit "Bockwurst, Broiler, Zukunft" und die 70er, 80er mit "Nudelsalat, Fondue, Stillstand" Revue passieren. Bis ins Groteske überhöht, skizziert Voigt die Ups and Downs der DDR-Versorgung.
Jutta Voigt: " Wie schmeckte die DDR? Nach Gleichheit und Schnitzel mit Mischgemüse? Nach Geborgenheit zwischen Schweinefleisch und Schnaps? Nach Anpassung und Sättigungsbeilage oder nach Chateaubriand und Privilegien? "

... fragt Jutta Voigt im Entree zu ihrem Buch. Kennte ich die Zeitungskollegin nicht von ihren witzigen, menschenfreundlichen Reportagen aus dem "Freitag" oder der "Zeit", hätte ich wohl schon beim Titel "Geschmack des Ostens" Klischees, Billighumor oder Ideologielastigkeit befürchtet.

Nichts von alledem bei Voigt, die in Gesellschaftsszenerien nie mit Vorurteilen, geschweige denn zynisch eintaucht, sondern auf erfrischend altmodische Weise gerne ein Stück eigene Geschichte in ihre Texte hineinwebt. – Nie wurde ein Land so komplett und freiwillig verlassen wie die DDR, mutmaßt Voigt zu Recht. Dabei waren DDR-Bürger als Lebensmittelverbraucher einsame Weltspitze. Pro Kopf und Jahr verspeiste man zwischen Fichtelberg und Rügen sage und schreibe 96 Kilo Fleisch, 16 Kilo Butter und 307 Eier.

Voigt: " Ein voller Bauch rebelliert nicht gern - das wussten Partei und Regierung. Sie wussten auch, dass vom Essen ihre Macht abhing, Sein oder Nichtsein, satt oder weg. "

In zwei Hauptgängen lässt die Autorin die 50er/60er Jahre mit (so ihre Kapitel-Headlines) "Bockwurst, Broiler, Zukunft" und die 70er/80er mit "Nudelsalat, Fondue, Stillstand" Revue passieren. Nahezu rührend klingt Voigts erste Erinnerung als bewusste Essensteilnehmerin im Nachkriegsberlin:

" Es war weiß, weich und süß, es schmeckte nach Neuanfang und Weltfrieden. "

… und war das erste Kuchenbrötchen der kleinen Jutta. Ein halbes Jahrhundert später erinnert sie sich als Erwachsene beim ersten McDonald-Fastfoodbrötchen wieder daran. Schon Brecht wusste "Und weil der Mensch ein Mensch ist, drum braucht er was zu Essen bittesehr..." Kein Wunder, dass die Versorgung der Bevölkerung 40 Jahre Dauerbrenner im SED-Politbüro war.

Ich weiß noch, wie mitten im heißen Angolakrieg Politbüromitglied Lamberz die Regierung Luandas agitierte, ihren Kaffee devisenfrei gegen Ludwigsfelder W50-LKW zu tauschen. Die Mecklenburger oder Erzgebirgler aßen ,was sie kriegen konnten - Spreewälder Gurken oder Thüringer Bratwurst, doch natürlich hätten sie gerne auch mal die Kulinarien des Kapitalismus probiert, Scampis oder Bardolinowein zum Beispiel …

Voigt: " Warum Knoblauch nur auf Volksfesten oder in Bulgarien und Polen zu haben war, bleibt eines der ungeklärten Geheimnisse dieses geheimnisvoll geheimnislosen Landes, wo sich die Nachricht, dass es irgendwo Knoblauch gab, wie ein Lauffeuer verbreitete. "

Ungewohnte Angebote zeitigten zuweilen ungewohnte Reaktionen. Als es in Berlin ausnahmsweise mal Auberginen gab, die die meisten nicht kannten, legte ein Havanna-Korrespondent kurzerhand Rezepte ins Gemüseregal. Liebevoll-launig beschreibt Voigt die Werktätigen als Beuteltier-Herde, die aus den Betriebsläden Mangelwaren wie frische Gurken oder Wernersgrüner Pils per Dederonbeutel ins Nest schleppten.

Als Mitte der 70er Jahre für DDR-Bürger mit Valuta Einkaufen im provisorischen Paradies "Intershop" erlaubt wurde und Unmut bei der übrigen Bevölkerung provozierte, erfand man die teuren Delikat-Läden. Jutta Voigt nimmt die perverse Preisdifferenz zwischen Delikat und Intershop aufs Korn:

" Eine Tafel Schokolade bekam man dort für eine DM, im Delikat für sieben Mark –Schwindelkurs im Dienst des Sozialismus in Nöten. "

Bis ins Groteske skizziert Voigt die Ups and Downs der DDR-Versorgung. Beim Anblick des vergammelten Nullachtfünfzehngemüses malt sie sich aus, für ihr Meerschwein Liese einen Ausreiseantrag zu stellen.

Wir erfahren auch, was man auf Staatsbanketten schmauste - Lachs als Vorspeise und Hühnerfilets als Hauptgang zum Beispiel, keine hohe Kunst an Feinschmeckerei, ein eher kleinbürgerliches Angebot eines kleinbürgerlichen Regimes. "Der Osten", resümiert die Autorin ambivalent, "hatte einen bitteren Beigeschmack und hinterließ doch eine Spur Restsüße".

Während westdeutsche Leser über den "Geschmack des Ostens" hier und da kopfschüttelnd staunen dürften, werden Ostdeutsche Jutta Voigts Erinnerungen eher schmunzelnd teilen. Schließlich kannte sie nicht nur die Diktatur des Proletariats, auch die dortige Diktatur der Kellner und hat das Jägerschnitzel aus Jagdwurst nicht nur verlacht, sondern auch in der eigenen Küche gemacht. Und Episoden wie die am Ende des Buches und der DDR geraten bei Voigt - pars pro toto - fast poetisch-philosophisch:

" Die Thüringer Schokowerke kreierten im letzten Moment feinste Schichtpralinen mit dem prophetischen Namen "Vergissmeinnicht", und keiner wollte mehr wissen, wie sie schmecken. "

Jutta Voigt
"Der Geschmack des Ostens. Vom Essen, Trinken und Leben in der DDR"
Gustav Kiepenheuer Verlag, Berlin, 216 S., 16 EUR, ISBN 3-378-01076-2