Wie Denken die Evolution beeinflusst

24.04.2007
Langfristig denken und kurzfristig handeln. In der Evolution des Menschen verhält es sich genau umgekehrt: Um langfristig zu handeln, muss der Mensch kurzfristig denken. Das Gehirn, so der Zoologe Wolfgang Wieser in seinem Buch "Geist und Genom", hat einen größeren Stellenwert in der Entwicklung des Menschen, als bislang angenommen.
Seit Charles Darwin "Die Entdeckung der Arten" schrieb, gelten Gene als Motor der Evolution. Nach dem Motto "survival of the fittest" bestimmen sie seit Jahrmillionen die Evolution. Gene sind verantwortlich dafür, dass aus simplen Pantoffeltierchen Fische, Reptilien, Vögel, Raubtiere und alle weiteren Arten entstanden sind. Ein Prozess, der über einen sehr langen Zeitraum hin stattfand und bis heute stattfindet. Die Evolution hört nie auf.

Doch mit dem Auftauchen des Menschen kommt eine neue Dimension in die Evolution. Denn keine andere Art hat sich so schnell entwickelt wie der Mensch. Um diese Entwicklung zu verstehen, reicht es nicht mehr aus, allein auf die Gene zu gucken, schreibt Wolfgang Wieser.

Das Gehirn spielt hier eine entscheidende und bislang unterschätze Rolle. 100 Milliarden Neuronen im Gehirn bestimmen tagtäglich das Leben der Menschen. (Im Vergleich: eine Ameise besitzt rund eine Million Neuronen).

Sie entscheiden, wie die Vorgaben des Genoms umgesetzt werden. Gene produzieren verschiedene Möglichkeiten, versetzen den Menschen zum Beispiel in die Lage sprechen, hören und sehen zu können. Doch werden diese Möglichkeiten nicht aktiv genutzt, verkümmern sie. Lernt ein Kind zum Beispiel nicht sprechen, weil es isoliert aufwächst, wird es das als Erwachsener nicht nachholen können. Ähnlich verhält es sich mit dem Hören oder Sehen.

Die genetischen Vorgaben allein verschaffen dem Menschen also nicht die Fertigkeiten, die er beherrscht, schreibt Wolfgang Wieser. Erst im Kontakt mit seiner Umwelt und mit Einsatz des Gehirns, entwickeln sich seine Möglichkeiten. Die menschliche Evolution ist viel komplexer, als Forscher bisher angenommen haben, sagt der Biologe.

Damit wir verstehen, warum der Mensch innerhalb weniger Jahrtausende eine so rasante Entwicklung durchgemacht macht, die sich mit keiner anderen Art vergleichen lässt, muss man das Spektrum der gängigen Evolutionstheorien öffnen. Es braucht hier keine komplett neue Theorie, aber zusätzliche Aspekte, schreibt der Autor. Es braucht ein neues Drehbuch für die Evolution.

Wolfgang Wieser will weg vom reinen Gen-Determinismus. Damit ist er nicht allein. In den vergangenen Jahren haben Wissenschaftler Begriffe wie egoistische oder individuelle Gene eingeführt, um das Erklärungsmanko innerhalb der Evolutionstheorie zu lösen.

"Gehirn und Genom" geht dabei noch einen Schritt weiter. Wer wie Wolfgang Wieser das Konzept für die Evolution nicht nur in den Genen sieht, muss zwangsläufig nach Ansätzen in anderen Wissenschaftsbereichen suchen. Soziologie, Archäologie, Anthropologie, der Autor bezieht auch zahlreiche Hinweisen und Erkenntnisse aus anderen Wissenschaftsbereichen in seine Überlegungen mit ein.

Dabei kommen ungewöhnliche spannende Verbindungen ans Licht. Ein Beispiel ist die genetisch bedingte Laktoseresistenz (die Unfähigkeit des Organismus Milchzucker zu verwerten), die in südlichen Ländern stark ausgeprägt ist, im Norden dagegen kaum. Trotzdem wird in allen Ländern Käse gegessen. Die Griechen bevorzugen allerdings Sorten mit einem geringen Laktoseanteil, die Schweden, Norweger und Niederländer dagegen produzieren Käse mit einem hohen Anteil an Milchzucker. Käse als ein Beispiel für sehr ähnliche Lebensweisen, trotz unterschiedlicher genetischer Disposition. Dahinter steckt das biologische Konzept, das Gene über das Gehirn im direkten Austausch mit ihrer Umwelt stehen. Den Fähigkeiten des Gehirns fällt deshalb eine entscheidende Rolle in der Evolution zu, so Wieser.

Wie der Mensch zu seinem Gehirn kam, dass ihm so viele Vorteile verschafft, ist leider nicht eindeutig geklärt. Wolfgang Wieser vermutet ein einzelnes Gen, das zu Beginn der Menschheitsgeschichte, eine Art Turbogang im Denkapparat des Homo sapiens veranlasst hat. Die Erfindung von Sprache, Kultur, Wissenschaft, Religion und Kriegen, schreibt der Forscher, ist vielleicht die Folge eines einzigen Gens. Vielleicht!

Ein spannender Ansatz, bei dem es sich lohnt genauer hinzuschauen. Mit seinem Buch will Wieser die Geschichte der Menschheitsentwicklung aber nicht vollkommen umschreiben. Der Leser darf deshalb auch nicht eine einzige, neue und absolute Antwort erwarten, sondern kann sich über zahlreiche Informationen aus der Wissenschaft freuen, die aus Sicht des Forschers für ein neues Konzept der jüngeren Evolutionsgeschichte sprechen.

Darüber hinaus erläutert Wieser die verschiedenen Standpunkte, die es in der Wissenschaft zur Evolutionstheorie gibt. Er nennt die historischen Wurzeln und erklärt die Entwicklung der Evolutionsforschung. Neben der genetischen, schreibt Wieser, läuft zeitlich versetzt eine kulturelle Evolution. Beide müssen zusammen betrachtet werden, lautet sein Fazit, um ein vollständiges Bild der menschlichen Entwicklungsgeschichte zu zeichnen.

Rezensiert von Susanne Nessler

Wolfgang Wieser: Gehirn und Genom. Ein neues Drehbuch für die Evolution
Verlag C.H. Beck München, 2007
285 Seiten, 24,90 Euro