Wie bei Muttern

Die Beziehung zwischen Müttern und Söhnen ist das Thema des irischen Autors Colm Tóibín. In seinen Erzählungen wird jedoch deutlich, dass diese nicht immmer von innigen Gefühlen geprägt ist.
Jeder Mensch hat eine Mutter – doch wie er zu ihr steht – und sie zu ihm –, das ist bei jedem Menschen anders. Entgegen dem landläufigen Glauben an eine von Natur aus besonders innige Mutter-Kind-Beziehung handeln die zehn Erzählungen über «Mütter und Söhne» des irischen Autors Colm Tóibín eher von Erfahrungen emotionaler Distanz, Loslösung, Entfremdung, sogar Entzweiung zwischen Söhnen und ihren Müttern – eine Distanz, die zugleich als lebensnotwendig, aber auch als Verrat empfunden wird, auf beiden Seiten.

Die meisten dieser Geschichten drehen sich überdies nicht nur um individuelle Mütter, sondern metaphorisch auch um das Mutterland Irland, um die Mutter Kirche sowie um die Muttersprache. Sodass die Söhne in diesen Stories sich immer zugleich an mehreren Mutter-Instanzen abzuarbeiten haben. Als Symbol für die gemischten Gefühle gegenüber der Mutter kann Rembrandts Mutter-Portrait gelten, das in der ersten Erzählung, «Der Gebrauch der Vernunft», von einem Kriminellen und Kunsträuber aus einem irischen Herrenhaus geraubt wird. Erst hat er es im Wald vergraben, dann, als er keinen Hehler findet, beschließt er, Rembrandts "sauertöpfische alte Frau" einfach zu verbrennen, um das Mutterbild ein für allemal loszuwerden.

Umgekehrt hegen auch die Mütter in Colm Tóibíns Geschichten – entgegen dem Klischee von der mütterlichen Selbstlosigkeit – eher zwiespältige Gefühle gegenüber ihren Söhnen. Die Erzählung «Eine Fahrt» beispielsweise zeigt eine Mutter, die ihren depressionskranken verstummten Sohn im Auto aus der Klinik nachhause holt, wo bereits ihr durch einen Schlaganfall gelähmter Ehemann auf sie wartet. Beide kranken Männer können oder wollen nicht mit ihr reden, und die Mutter malt sich im Auto kurz ihre Zukunft aus, "in der sie jedes Gramm Selbstsucht, das sie besaß, würde aufbringen müssen". Die ganze Erzählung scheint einzig um diesen verstörenden Satz herum gebaut zu sein.

In einer Erzählung kann ein Sohn seiner Mutter noch auf ihrem Sterbebett kaum verzeihen, dass sie ihn als Kind einmal monatelang zu einer Tante abgeschoben und sich kein einziges Mal bei ihm gemeldet hatte. Nicht selten beschreibt Tóibín heimliche Machtproben zwischen Mutter und Sohn, die derart wortkarg und verstohlen ausgetragen werden, dass sich ihre tödliche Tragweite erst beim genauen Lesen ganz entschlüsselt. So etwa, wenn eine energische junge Witwe, von ihrem Verstorbenen mit einem Schuldenberg zurückgelassen, sich aus eigener Kraft aus dem Schlamassel herausarbeitet, indem sie einen Fish ’n’ Chips-Laden und einen Weinhandel eröffnet, aber ihrem tüchtigen Buchhalter-Sohn klipp und klarmacht, dass dies ihr – und nicht sein künftiges – Geschäft ist und er darin nichts zu suchen hat.

Die katholische Mutter Kirche in Irland kommt bei Tóibín besonders schlecht weg, etwa wenn in der Geschichte "Ein Priester in der Familie" die Mutter die letzte im Dorf ist, die erfährt, dass ihr Priestersohn wegen Pädophilie vor Gericht kommt.

Colm Tóibín hat bislang atmosphärisch dichte Romane mit dem Schauplatz Irland geschrieben und 2004 für seinen historischen Roman über Henry James, "Der Meister in mittleren Jahren", viel Kritikerlob erhalten. In seinem ersten Erzählungsband erweist er sich nun als Meister der Verschwiegenheit und Zurückhaltung und pflegt einen Prosastil von gut sitzender knapper Eleganz. Dass hinter jedem wohl formulierten Satz Gewalt und wilde Aggressionen lauern, bleibt gleichwohl immer spürbar.

Besprochen von Sigrid Löffler

Colm Tóibín: Mütter und Söhne
Erzählungen.
Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini
Hanser Verlag, München 2009
286 Seiten, 19,90 Euro