Wie aktuell ist Stefan Zweigs Angstnovelle?

    Angst in Zeiten der Selbstbestimmung

    24:20 Minuten
    Schwarz-Weiß-Porträt einer Frau, die Angst hat.
    In Irenes Kopf spielt sich ein Furcht auslösender Kampf ab. © Callie Gibson / unsplash
    Von Sarah Murrenhoff · 09.08.2020
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    Eine Frau bricht aus ihrer Ehe aus, geht fremd und wird eingeholt von wahnhaften Ängsten. Das ist das Setting von Stefan Zweigs Novelle "Angst", geschrieben im Jahr 1910. Wie kann man die Geschichte erzählen, wenn man sie ein gutes Jahrhundert später als Hörspiel adaptiert? Ist die Angst vor den Folgen eines Seitensprungs noch aktuell?
    Beginn von Stefan Zweigs Novelle "Angst":
    Als Frau Irene die Treppe von der Wohnung ihres Geliebten hinabstieg, packte sie mit einem Male wieder jene sinnlose Angst. Ein schwarzer Kreisel surrte plötzlich vor ihren Augen, die Knie froren zu entsetzlicher Starre, und hastig mußte sie sich am Geländer festhalten, um nicht jählings nach vorne zu fallen. Es war nicht das erste Mal, daß sie den gefahrvollen Besuch wagte, dieser jähe Schauer ihr keineswegs fremd, immer unterlag sie trotz aller innerlichen Gegenwehr bei jeder Heimkehr solchen grundlosen Anfällen unsinniger und lächerlicher Angst.
    So klang sie, die Angst einer Ehebrecherin, 1910 im Wien von Stefan Zweig. Einem Wien zur Zeit der Jahrhundertwende – Kaiserstadt, Metropole, Magnet für Intellektuelle. Nach außen mondän, doch gleichzeitig bekam der Blick ins Innerste eine immer zentralere Rolle. Die Psychoanalyse war allgegenwärtig, auch in der Literatur der Wiener Moderne. So richtete auch Stefan Zweig – als er 1910 die Angstnovelle schrieb – den Blick ins Innenleben seiner Figur Irene, einer wohlsituierten Frau des Wiener Großbürgertums, die ihre Ehe, ihre Kinder und ihren Status aufs Spiel setzt, indem sie eine Affäre mit einem Pianisten eingeht.

    Zum Hörspiel "Angst":
    Hörspiel nach Stefan Zweig - Angst
    (Deutschlandfunk Kultur, Hörspiel, 09.08.2020)

    Ausschnitt aus Stefan Zweigs Novelle "Angst":
    Nichts in ihrem Blute hatte eigentlich nach dem seinen verlangt, nichts Sinnliches und kaum ein Geistiges sie seinem Körper verbunden: sie hatte sich ihm hingegeben, ohne seiner zu bedürfen oder ihn nur stark zu begehren, aus einer gewissen Trägheit des Widerstands gegen seinen Willen und einer Art unruhigen Neugier. Nichts in ihr, weder ihr durch eheliches Glück voll befriedigtes Blut, noch das bei Frauen so häufige Gefühl, in ihren geistigen Interessen zu verkümmern, hatte ihr einen Liebhaber zum Bedürfnis gemacht, sie war vollkommen glücklich an der Seite eines begüterten, geistig ihr überlegenen Gatten, zweier Kinder, träge und zufrieden gebettet in ihrer behaglichen, breitbürgerlichen, windstillen Existenz. Aber es gibt eine Schlaffheit der Atmosphäre, die ebenso sinnlich macht als Schwüle oder Sturm, eine Wohltemperiertheit des Glückes, die aufreizender ist als Unglück, und für viele Frauen durch ihre Wunschlosigkeit ebenso verhängnisvoll als eine dauernde Unbefriedigung durch Hoffnungslosigkeit.
    Die Erzählstimme in Stefan Zweigs Novelle weiß sehr genau, wie es Irene geht – ganz im Gegensatz zur Figur Irene selber. Obwohl die Novelle die Psyche einer weiblichen Protagonistin in den Fokus nimmt, sind es die patriarchalen Strukturen der Wiener Moderne, die Erzählung und Handlung bestimmen. Es ist ein Mann, der Irene in die Affäre lockt, es ist ihr Ehemann, der – ohne es offen zu sagen – längst davon weiß und eine arbeitslose Schauspielerin engagiert, um Irene zu erpressen und so zu einem Geständnis zu drängen. Und Irene? Steigert sich in eine immer wahnhafter werdende Angst vor den nicht absehbaren Folgen einer Schuld, die sie im Grunde nie aktiv und selbstbestimmt auf sich geladen hat. Der Wahn geht so weit, dass sie letztendlich keinen anderen Ausweg sieht als sich das Leben zu nehmen. Doch auch hier kommt ihr Ehemann ihr zuvor, vereitelt ihren Plan in letzter Sekunde und schenkt ihr die Absolution. Geläutert sinkt Irene am Ende also zurück in die Geborgenheit ihrer bürgerlichen Existenz.
    Ende von Stefan Zweigs Novelle "Angst":
    Leise flog ein Lächeln auf ihre Lippen und rastete dort still. Mit geschlossenen Augen lag sie, um all dies tiefer zu genießen, was ihr Leben war und nun auch ihr Glück. Innen tat noch leise etwas weh, aber es war ein verheißender Schmerz, glühend und doch lind, so wie Wunden brennen, ehe sie für immer vernarben wollen.
    So endet die Novelle "Angst" von Stefan Zweig. Und so konnte sie 1910 auch nur enden – zumindest, wenn sie keine Tragödie sein sollte. Die Protagonistin hat ihren Ausbruch gelebt – ein Exkurs, so fern und abgetrennt vom eigentlichen Leben, als könnte er eine Traumsequenz sein. Sie hat dazugelernt und kehrt dankbar und schuldbewusst zurück in ihre Rolle als Frau eines erfolgreichen Anwalts, der ihr die Gnade geschenkt hat. Für eine großbürgerliche Frau der Wiener Moderne die einzig denkbare Möglichkeit. Doch wie geht man mit diesem Text um, wenn man ihn mehr als hundert Jahre später zu einem Hörspiel adaptiert und ins Heute überträgt? Heute gibt es viele Möglichkeiten, wie die Geschichte ausgehen kann. Irene könnte eine offene oder gar eine Doppelbeziehung führen, sie könnte sich trennen, die Affäre gestehen oder auch nicht und dennoch in ihrer Beziehung bleiben. Diese Fragen haben sich die Hörspielbearbeiterinnen Ronja Helene Grabow und Teresa Fritzi Hoerl gestellt.
    Ronja Grabow:
    Ich fand einiges sehr aktuell, und mich hat interessiert bei der Bearbeitung: Was passiert, wenn wir das nicht im Wien 1920 spielen lassen, sondern ja, in der heutigen Zeit. Und was passiert mit Irene? Was passiert mit den Figuren, was passiert mit der Erzählung? Ich glaube, dass sich da viele Parameter verschoben haben. Mir war wichtig, Irene aus diesem sehr patriarchalen Korsett rauszulösen und zu schauen, was passiert mit dem Stoff, wenn Irene eine selbstbestimmte Frau ist, die sich nicht mehr fürchten muss, den Status in der Gesellschaft zu verlieren, die nicht mehr finanziell abhängig von ihrem Mann ist. Und trotzdem, da habe ich mich gefragt, was steckt eigentlich von diesen Strukturen noch in uns?
    Teresa Hoerl:
    Was ich an der Novelle heute noch sehr aktuell finde, ist so eine gewisse Spannung, in der die Hauptfigur da drinsteckt. Und zwar fand ich sehr aktuell oder immer noch aktuell so eine Diskrepanz zwischen dem, was ich als mein Bedürfnis empfinde, oder Bedürfnissen, die ich hab, und der Art von Definition, die ich mir und meinem Verhalten gebe, weil ich denke, die Gesellschaft erwartet etwas von mir. Und natürlich hat sich die Gesellschaft stark verändert seit der Zeit. Aber ich glaube, dass dieses Phänomen, dass man sich als Ich irgendwie abgrenzen und anders definieren muss als wie andere einen sehen, das ist immer noch der Fall.
    Einspielung Hörspiel "Angst":
    IRENE: Das Schuldbewusstsein für den Ehebruch, für meine eigene Schlechtigkeit, das hat mich zuerst erschreckt.
    ERPRESSERIN: Endlich mal was los! Endlich mal Spannung.
    IRENE: Ja. Spannung. Aber die existierte nur in den ersten Augenblicken. Etwas in mir wehrte sich schnell gegen diesen Menschen und am meisten gegen das Neue in ihm. Das Geheimnisvolle, das unsere Beziehung umwitterte, war durch den Sex irgendwie zerbrochen.
    ERPRESSERIN: Aber du kamst wieder und wieder zu ihm.
    IRENE: ...ohne beglückt, ohne enttäuscht zu sein. Das Abenteuer erschien mir bald so schrecklich banal.
    ERZÄHLER: Wie beiläufig war er verblasst, der Rausch des Fremden ... wurde Gewohnheit.
    IRENE: Nach wenigen Wochen schon passte ich Edi irgendwo säuberlich in mein Leben ein. Einen Tag die Woche besuche ich meine Schwiegereltern und an einem anderen Tag der Woche bin ich eben bei Edi.
    ERZÄHLER: Jetzt, da die Bedrohung im Raum stand, sie könnte auffliegen, war sie bereit, die Affäre ganz zu beenden. Es erschien ihr mit einem Mal nichts mehr wert.
    …Da ist nicht mehr nur eine Erzählstimme – ein Erzähler, der in Irenes Kopf guckt und das Chaos darin in wohltemperierte Worte fasst… Im Hörspiel von Ronja Grabow und Teresa Hoerl darf Irene mitreden – schließlich geht es um ihr innerstes Erleben. Hörspielbearbeiterin Ronja Grabow:
    Ronja Grabow:
    Irene wird sehr viel – bei Zweig wird sie konstant erklärt. Der Erzähler erklärt mir, was Irene erlebt und fühlt. Der Mann Irenes erklärt mir, was Irene fühlt und was ihr Erleichterung verschaffen würde und wie sie sich zu verhalten hat. Und mich hat interessiert: Was fühlt eigentlich Irene? Diese Innenansicht, dieser innere Zustand Irenes war etwas, der für mich am Anfang ganz klar oder ganz präsent war, dass ich mich darauf fokussieren möchte. Dass die Erzählung aufgebrochen wird in verschiedene Gefühlsräume für verschiedene Stimmen innerhalb Irenes, und zwar muss ich dann noch einmal bei der Figur der Erpresserin ansetzen, die für mich auch – nicht zwangsläufig, aber auch – für eine Außenperspektive für die Gesellschaft stehen kann.
    Einspielung Hörspiel "Angst":
    IRENE: Draußen steht sie schon, die Angst. Ungeduldig mich anzufassen, sich auf mich zu werfen mit einem Gewicht, das mich atemlos macht.
    Hart stößt Irene mit einer gerade eintretenden Person zusammen.
    IRENE Pardon.
    IRENE: Ich mache einen linkischen Versuch durchzuwischen, aber eine Person pfropft ihren massigen Körper breit in die Tür.
    ERPRESSERIN (laut) Natürlich!
    IRENE: Bitte was?
    ERPRESSERIN: Du kommst von Edi!
    IRENE: Sie irren sich. Lassen Sie mich durch.
    ERPRESSERIN: Ich irre mich nicht!
    IRENE: Sich jetzt keine Blöße geben, nicht in diesem Moment. Was weiß diese Frau überhaupt?
    Was war das? Eine reale Begegnung mit einer konkreten Figur? Oder war es die Verkörperung von Irenes ureigenster Angst?
    Einspielung
    Draußen steht sie schon, die Angst.
    Ronja Grabow
    Das muss keine konkrete Figur sein. Weil letztlich hat sich das für mich nicht mehr getragen, dass der Ehemann eine Schauspielerin engagiert, um seine Frau des Ehebruchs zu überführen. Mich hat sehr interessiert, was passiert, wenn wir das nicht mehr so klar umreißen, wenn wir diese Figur abstrakt werden lassen und wenn man letztlich den Freiraum gibt zu der Interpretation: Ist das tatsächlich gerade passiert? Oder ist es vielleicht in Irenes Kopf passiert? Und wie geht Irene mit dem Konflikt um, der letztlich diese Angst in ihr auslöst?
    Fortsetzung Einspielung Hörspiel "Angst":
    ERPRESSERIN: Luder! Du gemeines...
    IRENE: Sie sind ja verrückt.
    ERPRESSERIN: Ich erkenn dich doch wieder!
    IRENE: Jetzt schreien Sie nicht so!
    ERPRESSERIN: Was denn? Angst, dass uns jemand hört?
    IRENE: Was wollen Sie von mir?
    ERPRESSERIN: Was ich von dir will? [Pause] Sehen, was es dir wert ist, das will ich. Du siehst mir nicht aus wie eine, die nichts darauf gibt, was andere sagen.
    Nach dieser ersten – zunächst einmal ziemlich realistisch anmutenden – Begegnung mit der Erpresserin taucht die Stimme immer wieder auf.
    Einspielung Hörspiel "Angst": Collage Erpresserin
    ERPRESSERIN: Was denn? Angst, dass uns jemand hört? ... was es dir wert ist... Eine wie du... auf dem Spiel ... Wir sehen uns wieder, darauf kannst du dich verlassen. Wir sehen uns wieder... Wir sehen uns wieder...
    Musik
    Die Erpresserin verfolgt Irene – als hätte sie sich in ihrem Kopf eingenistet. Von dort aus kommentiert sie frostig alles, was Irene macht und fühlt, und wird so neben dem Erzähler und Irenes innerer Stimme die dritte tragende Erzählinstanz des Hörspiels. Und das spielt sich auf wechselnden Ebenen ab: Da ist die Ebene der Innerlichkeit, des inneren Zwiegesprächs, da sind auch ganz realistische und semi-realistische Szenen, da ist die Ebene der Erinnerung und auch die des Wahns, des Realitätsverlusts, verbunden durch den melancholischen, minimalistischen Electro der Wiener Band HVOB. Regisseurin Teresa Hoerl:
    Teresa Hoerl:
    Wir haben versucht, durch Geräusche wie so eine Art Kompass zu bauen, dass man so ein bisschen spürt: Wo befinde ich mich denn gerade? Da spielen Töne eine große Rolle, eben Wasser steht oft für so eine Innerlichkeit. Die tickende Uhr steht oft für so eine Ebene der Erzählung und was ist so Irenes alltägliches Leben. Es ist aber auch so, dass wir mit verschiedenen Hallräumen und Mikrofonen gearbeitet haben. Also, mit diesen ganzen Mitteln der akustischen Ebene haben wir da versucht, so diese Verschiedenartigkeit der Räume, der Erzählräume, in denen wir uns befinden, spürbar zu machen.
    Einspielung Hörspiel "Angst":
    IRENE: Sollten wir uns tatsächlich wieder begegnen, ich werde eiskalt alles leugnen. Ein Irrtum, eine Verwechslung. Ich habe dich nie zuvor gesehen. Was weißt du schon über mich?
    ERPRESSERIN: Ist die Frage nicht eher: Was weißt DU über DICH?
    Musik
    Mit ihren Fragen und Anfeindungen zielt die Stimme auf genau die Punkte, die Irene bislang erfolgreich verdrängt hat. Plötzlich bricht alles auf sie hinein: ihr Schuldgefühl, ihre unerfüllten Sehnsüchte, ihre Lebenslügen. Dass sie ihr Leben einfach nur geschehen lässt, sich nichts selbst aussucht. Es gibt zwar Momente des Ausbruchs, in denen sie sich kurz lebendig fühlt – genau so viel, um ein Gespür zu bekommen für die Möglichkeit eines ungelebten Lebens. Dann aber gibt es jedes Mal wieder etwas, was Irene dazu bringt, sich sofort wieder zu regulieren.
    Schauspielerin Sina Martens, die Irene im Hörspiel gespielt hat:
    Und das ist so dramatisch, finde ich!… Oh, das hat einen wirklich, also hat einen beim Spielen so eng gemacht, weil man die ganze Zeit das Gefühl hatte, "Leb es doch mal!", "Explodier doch mal!", "Nimm es an, was passiert!"… Wenn man sich damit beschäftigt, dann kriegt man ja selber ein Gefühl von Enge und versteht natürlich eine gewisse Form von Sehnsucht. Und was gibt es denn da noch in der Welt? Was gibt es denn noch in mir und der Welt? Und wie bin ich in der Welt und mit anderen? Die hat so eine Sehnsucht, versucht der nachzugehen. Aber die kann das überhaupt nicht leben. Und das ist … ja, das hat einen wirklich so zugeschnürt beim Spielen, weil man dachte… Wirklich, das finde ich so… also, wirklich, das hat eine Form von Tragik.
    Da ist also eine junge Frau im 21. Jahrhundert, finanziell unabhängig von ihrem Mann, die in einer Gesellschaft lebt, die Individualismus feiert, und die rein theoretisch die Freiheit hat, ihr Leben und auch ihre Beziehungsform so zu gestalten, wie sie es für bestmöglich hält. Hedonismus als Lebensprinzip oder ein Leben in bürgerlichen Bahnen – all diese Schubladen gibt es bereits. Und doch fühlt sie sich gefangen und steigert sich – nach einem halbherzigen Ausbruch – immer weiter in eine wahnhafte Panik. Wovor hat sie Angst?
    Ronja Grabow:
    Ich glaube, die Angst besteht darin, sich Fragen zu stellen… Wie möchte sie leben, wie möchte sie ihr Leben gestalten? Und warum hat sie das eigentlich bisher nicht getan, wenn sie in etwas drinsteckt, was sie so unglücklich werden lässt, dass sie sich nicht lebendig fühlt, dass sie sich immer wieder sehr gefangen in etwas fühlt?
    Teresa Hoerl:
    Was kann Irene aus dem Hörspiel im schlimmsten Fall passieren? Das ist ja eben nicht mehr so klar zu beantworten. Bei Zweig oder jetzt im Wien um 1900 ist total klar, dass das Erstrebenswerte ist, in dieser bürgerlichen Welt zu verbleiben. Und diese Frage kann man ja heute nicht unbedingt mehr so klar beantworten. Ich weiß nicht, ob ich Irene nicht auch wünschen würde, dass sie sich einen VW-Bus kauft und in Portugal irgendwie surfen geht und ein Jahr lang überlegt, herauszufinden, wer sie wirklich ist. Und genauso gut gibt es die Möglichkeit, in der bürgerlichen Welt zu sein und die umzugestalten und eine Beziehung anders zu führen. Mutiger zu führen, ehrlicher zu führen. Also auch diese Rückkehr in die bürgerliche Existenz ist nicht unbedingt richtig oder falsch. Es kommt total drauf an, was sie draus macht.
    Ronja Grabow:
    Als ich angefangen habe, mich mit einer modernen Irene zu beschäftigen, habe ich gemerkt, dass gerade meine Generation von Frauen, die jetzt Anfang, Mitte 30 sind, dass das – bestimmt nicht für alle, aber für viele – nach wie vor ein Thema ist, dass diese Figur jemand ist, der mit einem Wertesystem aufgewachsen ist, was gerade für Frauen noch sehr viel Scham impliziert. Also die Scham ist auch ein sehr, sehr mächtiges Gefühl. Und die Scham, finde ich, steht in beiden, also sowohl in der Novelle von Zweig als auch in der Adaption, sehr nah neben der Angst oder vermischt sich immer wieder damit.
    Die Angst ist diffus, nicht konkret fassbar und auch nicht so leicht zu enthebeln wie in Zweigs Novelle. Aber "Angst" – ist das immer noch das passende Wort für das Gefühl, das eine moderne Irene in den Wahn treibt?
    Teresa Hoerl:
    Ich denke schon, dass das Wort Angst auch beschreibt, was Irene umtreibt. Allerdings kommen da in unserer Adaption noch mehr und andere Facetten dazu. Also es spielt ja auch eine Rolle – eine große Rolle, sowohl in der Novelle aber vielleicht liegt da bei uns sogar ein bisschen mehr der Fokus drauf – eben so eine Art Scham oder eine Art Unterdrückung. Eine Art, nicht zulassen können, sich verstellen müssen. Und ich finde auch, das Wort "Druck" passt eigentlich sehr gut zu dem, was Irene ganz stark und oft in diesen 60 Minuten empfindet. Deswegen: Angst – ja, auch, aber eben als wie ein… ja, Angst in ihren verschiedenen Formen, in denen sie sich aufdrängen kann. Angst vor Gesichtsverlust, Angst davor, sich zu trauen, zu sein, wer man sein will…
    Sina Martens:
    Ich glaube, dass sie sehr, sehr viel Angst vor ihrem eigenen Gefühl und ihrem eigenen Selbst hat, vor dem, was da aus ihr herausbricht, wenn sie das zulässt. Ich glaube, dass sie wahnsinnig viel Angst hat, ein Leben, das ihr eine Sicherheit gibt, wo sie nicht sich in einem freien Fall befindet, dieses Leben aufzugeben und zu verlieren. Ich glaube, davor hat sie eine unglaubliche Angst, weil sie eventuell das nicht schaffen würde zu existieren ohne dieses Leben.
    Ausschnitt Hörspiel "Angst":
    IRENE Ich muss sie niederkämpfen ... [irritiert] diese Hast.
    ERZÄHLER: Schuld.
    IRENE: Hast.
    ERZÄHLER: Schuld.
    ERPRESSERIN: Scham.
    IRENE Hast. Ich muss sie niederkämpfen. Diese Hast.
    Ganz nah nimmt man teil am Kampf, der in Irenes Kopf stattfindet. Immer wieder ringt sie damit, das Ruder in die Hand zu bekommen, selbst definieren zu dürfen, wie oder wer sie ist. Regisseurin Teresa Hoerl:
    Teresa Hoerl:
    Die Idee, den Erzähler, diesen starken Erzähler, den die Novelle hat, zu brechen und dem eben eine eigene Erzählstimme von Irene zur Seite zu stellen, spiegelt natürlich auch so ein bisschen das wider, was ich als so ein bisschen Kernstück der Geschichte für mich… dass es da um so einen Widerstreit zwischen gesellschaftlichen Kräften und individuellen Kräften und die ja darum ringen, zu definieren, wie oder wer jemand ist. Und da ist es, glaube ich, dann ganz schön, oder damit kann man schön spielen dann, dafür kann man diese drei Erzählstimmen sehr schön benutzen: Wer kommt wann zu Wort? Wer setzt sich durch? Und auch: Wann ist das Ganze irgendwie etwas Tröstliches, wann ist es ein Streit und eine Auseinandersetzung und etwas, das einen unter Druck setzt.
    Im Laufe des Hörspiels geschieht etwas Interessantes: Die Erpresserin – oder die Stimme ihrer Angst – verliert zunehmend an Bedrohlichkeit und mutiert immer mehr zu einer Verbündeten mit fast therapeutischer Wirkung. Mit ihr bespricht Irene, ob sie die Affäre gestehen wird oder nicht. Irene erzählt ihr von prägenden Kindheitserlebnissen, die Grund sind für eine sehr tief verankerte bürgerliche Moral. Und die Erpresserin hört zu, fragt nach, kommentiert, provoziert. Sie unterstützt Irene gewissermaßen dabei, sich selbst ein Stück weit besser kennenzulernen. So lange, bis Irene beschließt: Jetzt brauche ich das nicht mehr!
    Ausschnitt Hörspiel "Angst":
    ERPRESSERIN: In deiner Welt ist dein größtes Problem, dass du aus Langeweile deinen Mann betrogen hast und dich jetzt nicht traust es ihm zu sagen. Und eigentlich doch auch nur deswegen, weil du nicht aus deiner schönen Wohnung ausziehen willst.
    IRENE: Aber darum geht es nicht!!! Bin ich denn überhaupt schuldig? […] Es ging ja nie um eine andere Person, es ging um ein anderes Selbst! [...] Nach jahrelanger Zurückhaltung, nach ultimativer Angepasstheit an dieses Außen ... das ich plötzlich nicht mehr begreife. Damals, als Edi in mein Leben getreten ist, fühlte ich mich zum ersten Mal wieder in meinem Innersten gereizt, weil ich die bürgerliche Welt, in der ich lebe, verneint habe.
    ERZÄHLER: Sie verstand nun, wie viel Wahrhaftigkeit, wie viel freies Leben sie verpasst hatte.
    ERPRESSERIN: Na endlich verstehst du, was du alles verpasst hast!
    ERZÄHLER: Eine windstille bürgerliche Existenz hat ihren Preis.
    IRENE: Bitte. Hört auf.
    ERPRESSERIN: Und die Moral von der Geschicht: schlimme Dinge macht man nicht!
    ERZÄHLER: Man nennt das Kultiviertheit.
    IRENE: Hört auf.
    ERPRESSERIN: Ich nenne das eben Langeweile!
    IRENE: Hört auf Ich möchte nicht weiter erklärt werden. Bitte. Bitte geht einfach.
    ERPRESSERIN: Echt jetzt?
    Stühlerücken. Murmeln. Jacken werden angezogen.
    ERZÄHLER: Na gut.
    ERPRESSERIN: Wenn sie unbedingt will.
    Ab jetzt übernimmt Irene allein die Verantwortung für den Fortgang der Erzählung. Die Panik, das Getrieben-Sein, die Zerrissenheit sind vorbei. Ruhe kehrt ein. Endlich kann sich Irene sortieren, mit klaren Gedanken eine Entscheidung treffen. Fest steht: Sie will keine Lüge mehr leben, sie will endlich ehrlich zu sich und zu ihrem Partner sein, sie möchte sich nicht mehr von einem verinnerlichten Außen vorschreiben lassen, wie ihre Werte auszusehen haben. Ein neuer Abschnitt steht bevor. Mit oder ohne ihren Mann. Mit oder ohne Bekenntnis. Um den Seitensprung geht es längst nicht mehr. Die Reise, die Irene gemacht hat, ging viel weiter und tiefer in ihr Selbst.
    Ausschnitt Hörspiel "Angst":
    IRENE: Als ich die Wohnung betrete höre ich Geräusche aus der Küche. Fritz ist am Kochen, es läuft Musik.
    IRENE: Du bist hier?
    FRITZ: Na klar. Wo sollte ich denn sonst sein? Hast du Lust auf überbackenen Blumenkohl?
    IRENE: Ganz ehrlich?
    FRITZ: Ja?
    IRENE: Ich muss dir was gestehen.
    FRITZ: Ja?
    IRENE: Ich hasse Blumenkohl.
    FRITZ: Was?
    IRENE: Wirklich. Ich hasse Blumenkohl.
    FRITZ: Aber ich mach den total oft.
    IRENE: Ja. Ich weiß.
    In dieser Szene steckt wirklich nichts von Stefan Zweig. Nicht die kunstvolle Sprache, nicht das erzwungene Geständnis, nicht das Happy End einer Irene, die geläutert in ihre Rolle zurückkehrt. Die Irene aus dem Hörspiel kehrt bewusst zurück. Den Konflikt hat sie mit sich allein ausgemacht.
    Ausschnitt Ende des Hörspiels "Angst":
    FRITZ: Leise fliegt ein Lächeln auf deine Lippen und rastet dort still.
    IRENE: Ja. Und Innen tut noch leise etwas weh.
    Musik
    Da scheint er noch einmal durch, der Stefan Zweig – im allerletzten Satz, ruhig und melancholisch. Hörspielbearbeiterin Ronja Grabow:
    Ronja Grabow:
    "Und innen tut noch leise etwas weh." Das war für mich so ein zeitloser Satz, der, glaube ich, sehr gut beschreibt, dass, wenn wir innerlich sehr viel erlebt haben, und egal, welche Reise die Figur innerhalb der Erzählung erlebt und durchlebt hat, dass das gerade in diesem Fall wahnsinnig gut beschrieb, dass… Sie hat etwas erlebt. Es ist etwas passiert. Sie hat sich mit den Dingen letztlich auseinandergesetzt, aber die sind nicht verschwunden. Die sind noch da, die sind Teil von ihr und das, was das Essentielle ist, ist die Frage, wie geht sie jetzt damit um? Und ich fand es auch schön, das offen zu lassen und dem Hörer letztlich die Freiheit zu geben, zu entschieden, was für eine Zukunft Irene erwartet.

    Zum Hörspiel "Angst":
    Hörspiel nach Stefan Zweig - Angst
    (Deutschlandfunk Kultur, Hörspiel, 09.08.2020)