Widerspenstige Weihnachtslieder

Mehr als Klingeling und süße Glocken

Weihnachtslieder-Singen im Stadion des 1. FC Köln
"Eine Sehnsucht, die man religiös verstehen kann, aber nicht religiös verstehen muss": Kinder singen Weihnachtslieder im Stadion des 1. FC Köln. © picture alliance / dpa / Guido Kirchner
Michael Fischer im Gespräch mit Kirsten Dietrich · 23.12.2018
Verkürzt, bereinigt, umgedichtet: Viele populäre Weihnachtslieder haben eine wechselvolle Geschichte. Was zwischen ihren Zeilen zu lesen ist, verrät der Historiker und Theologe Michael Fischer.
Kirsten Dietrich: Scheinbar uralt und doch ganz modern – diesen Spagat müssen nicht nur Weihnachtsbräuche meistern, das gilt genauso auch für Weihnachtslieder. Gerade die, die altehrwürdig erscheinen und scheinbar schon immer zum Fest gehörten, sind vielleicht gerade mal 200 Jahre alt, wie zum Beispiel das Weihnachtslied schlechthin, "Stille Nacht, heilige Nacht". Und Lieder, die wirklich uralt sind, die mag eigentlich außer ganz Frommen oder ganz Musikalischen niemand mehr so richtig singen, "Maria durch ein Dornwald ging" zum Beispiel. Und andere haben ihren zeitlos-weihnachtlichen Touch erst im Nationalsozialismus bekommen.
Weihnachtslieder können also durchaus widerspenstig sein. Und genau darüber habe ich vor der Sendung mit Michael Fischer gesprochen. Er leitet das Zentrum für Populäre Kultur und Musik an der Universität Freiburg und beschäftigt sich auch mit Weihnachts- und Kirchenliedern. Widerspenstige Weihnachtslieder – das klingt erst mal nach einem Widerspruch. Weil der Anlass so nett und besinnlich ist und die Bilder so stark: Krippe, Kind, Engel. Ich wollte von Michael Fischer wissen: Macht es das den Weihnachtsliedern einfach oder eher schwer?
Michael Fischer: Ja, man kann natürlich die üblichen Weihnachtsrequisiten nehmen und einmal durchschütteln – und dann rieselt leise der Schnee. Und der Tannenbaum ist grün und er funkelt. Aber es geht natürlich auch komplizierter. Und wenn man die älteren Lieder anschaut, die religiösen Lieder, die haben oft eine sehr komplizierte Theologie, die voraussetzt, dass die Sängerinnen und Sänger sich da ein wenig auskennen.

"Stille Nacht" als Punk-Parodie

Dietrich: Aber die Weihnachtslieder, die richtig populär sind, die haben das nicht – so wie zum Beispiel "Stille Nacht", die ja in diesem Jahr 200 Jahre Jubiläum feiert. Das ist wahrscheinlich auch das Lied mit den meisten Parodien, oder?
Fischer: Ja, das ist ein Zeichen für die Größe des Liedes, dass es so viele Parodien gibt, und zwar in allen Genres. Da gibt es Parodien, das geht dann auf "Atemlos durch die Nacht", es gibt Punkversionen, das ist also ganz breit gefächert.
Michael Fischer, Geschäftsführender Direktor des Zentrums für Populäre Kultur und Musik an der Uni Freiburg.
Alternative Fassungen der klassischen Weihnachtslieder haben ein kritisches Potenzial, sagt der Historiker und Theologe Michael Fischer.© Uni Freiburg / Michael Fischer
Dietrich: Das ist aber nicht nur ein Phänomen der Gegenwart, oder?
Fischer: Nein, Parodien gibt es schon länger. Man unterscheidet ja zwischen humoristischen Parodien, wie wir sie auf YouTube finden, aber es gibt natürlich auch ernst gemeinte Parodien, also als literarisches Verfahren – gleiche Melodie, anderer Text – zum Beispiel aus der Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert, wo durchaus religionskritisch die "Stille Nacht, heilige Nacht" anders gesungen wurde, als wir das kennen.

Elend der Arbeiter - Idyll im Bürgerhaus

Dietrich: Wie klingt das dann?
Fischer: Da gibt es eine Fassung, die fängt an mit "Stille Nacht, heilige Nacht, rings umher Lichterpracht, in der Hütt’ nur Elend und Not, kalt und öde, kein Licht und kein Brot, schläft die Armut auf Stroh". Also hier wird im Grunde in Anspielung an die biblischen Bilder die bürgerliche Religiosität, die Kirchlichkeit gegen sich selbst gewandt und versucht, die prophetische Dimension von Weihnachten wachzuhalten, indem man die Armut erinnert.
Dietrich: Das heißt, die Weihnachtslieder haben dann auch, zumindest verborgen, ein kritisches Potenzial in sich, also selbst so ein populäres Lied wie "Stille Nacht, heilige Nacht"?
Fischer: Ja, in den verschiedenen Aneignungen schon. Da wird es dann eben anders entfaltet, als man es kennt, und das hat ein kritisches Potenzial, aber ist natürlich in einer gewissen Weise auch innovativ.
Dietrich: Das Lied selbst, also die "Stille Nacht", war ja ursprünglich auch anders, als wir die heute singen, weil es doppelt so viele Strophen hatte. Von den sechs Strophen sind drei weggefallen. Warum sind diese Strophen weggefallen, was waren das für Strophen?
Fischer: Man könnte so sagen: Die theologischen Inhalte sind weggefallen, da ist tatsächlich die Hälfte des Textes weggefallen. Übrig geblieben ist diese Weihnachtsidylle, diese Betrachtung des Paares, das Kind, diese Stimmungsbilder. Und eine Strophe, die weggefallen ist, hat einen ganz interessanten Text, das lese ich vielleicht mal vor, die geht: "Stille Nacht, heilige Nacht, Wo sich heut’ alle Macht väterlicher Liebe ergoss und als Bruder huldvoll umschloss Jesus die Völker der Welt." Der Satz ist ein bisschen kompliziert, aber die Vorstellung ist, dass die Liebe des Vaters, also Gottes, sich ausgießt und Jesus Christus als Bruder die Welt umschließt. Das ist ein Gedanke, wo wir vielleicht heute im Rückblick an die Französische Revolution denken. Es ist nicht ganz klar, ob es so politisch gemeint ist, aber vielleicht ist das ein Gedanke, der heute wieder aktuell ist.

Folklore verdrängt theologische Inhalte

Dietrich: Weiß man etwas darüber, warum diese Strophe weggefallen ist?
Fischer: Diese Verkürzung auf drei Strophen, die fängt ganz früh an, schon im 19. Jahrhundert, und zwar wird da das Lied in einen folkloristischen Kontext eingespeist. Da gibt es Tiroler Sängergruppen, die sind dann unterwegs und treten in Städten auf, beispielsweise in Leipzig, und singen dann in konzertantem Rahmen dieses Lied, und dann haben diese theologisch aufgeladenen Strophen im Grunde keinen Platz mehr.
Krippe aus Bethlehem, geschnitzt aus Ebenholz, Krippenausstellung im Schloß Hadamar aus der Sammlung von Pfarrer Lippert
Weihnachtskrippe© Friedel Gierth/dpa
Dietrich: Das ist ja auch bei anderen Liedern passiert. Ich war ganz erstaunt, dass auch "Ihr Kinderlein kommet", was ja das harmloseste der harmlosen Lieder ist, so wie wir das heute singen, eigentlich noch mal einen ganz theologischen Text hatte.
Fischer: Ja, das stammt ja auch aus der Aufklärungszeit, also ist etwas früher als "Stille Nacht". Genau, da ist es ganz ähnlich, dass bestimmte religiöse Inhalte dann in der Rezeption ausfallen und diese Kinderstimmung und diese Krippenstimmung bleibt. Da ist zum Beispiel ganz interessant, dass in diesem Lied in der ursprünglichen Fassung an das Kreuz, an den Tod Jesu erinnert wird und es gleichgesetzt wird: "Ach hier in der Krippe schon Armut und Not, am Kreuze dort gar noch den bitteren Tod". Die Kinder werden aufgefordert, sich selbst, also ihre Herzen sozusagen, als Opfer zu bringen. Das ist natürlich eine bestimmte Vorstellung von Kindheit und Unschuld, die da mitschwingt, aber es heißt dann auch quasi konsumkritisch, dass Jesus keine Geschenke und keine materiellen Opfer verlangt, sondern ein reines Herz.
Dietrich: Diese theologischen Weihnachtslieder, die wirklich Kreuz und Krippe zusammenspannen, das sind ja sowieso nach meiner Einschätzung die Lieder, die es eher schwer haben. Das fängt bei den Adventsliedern an wie "Es kommt ein Schiff geladen", das ja auch genau Weihnachten und die Kreuzestheologie zusammenbringt. Das mag heute gar niemand mehr so richtig singen, habe ich das Gefühl.

Rückbesinnung: Es geht um Erlösung

Fischer: Ja, das war ja sperrig, dieses Weihnachtsfest, das Erleben des Weihnachtsfestes oder was wir damit verbinden, das hat sich ja in den letzten 200 Jahren in eine bestimmte Richtung entwickelt, also in Richtung Familie, in Richtung Häuslichkeit, und dann sind diese Bilder vielleicht auch zu sperrig. Aber es gibt doch auch Versuche, solche Lieder wieder neu ins Bewusstsein zu rufen, etwa die Texte von Jochen Klepper, "Die Nacht ist vorgedrungen", und auch im neuen katholischen Gesangbuch wurde ein solcher Text aufgenommen, der dann etwas sperriger ist.
Dietrich: Welcher ist das?
Fischer: Das Lied heißt "Du Kind, zu dieser heiligen Zeit gedenken wir auch an dein Leid". Da wird eben schon in den ersten zwei Versen klargemacht, dass Krippe und Kreuz zusammengehören, und es wird sehr stark die Schuld der Menschen thematisiert. Diese Theologie, die in diesem Lied vorkommt, die ist unter bestimmten Aspekten vielleicht auch kritikwürdig, weil es einen ganz bestimmten Aspekt herausgreift, die Erlösungsbedürftigkeit der Menschen. Aber es ist eben ein anderer Aspekt, wo es nicht nur um Stimmung und Tannenduft geht oder um das niedliche Kind, sondern um den existenziellen Ernst, der mit der Menschwerdung Christi und mit der Menschwerdung der Menschen sozusagen verbunden ist.
Dietrich: Ich erkenne die Absicht, die dahintersteht, dass man genau dieses Lied ins Gotteslob, also ins katholische Gesangbuch genommen hat, aber meinen Sie, das funktioniert? Das hat man ja schon mit dem evangelischen Gesangbuch auch nach dem Zweiten Weltkrieg versucht, all die gefühligen Weihnachtslieder rauszunehmen und nur die etwas strengeren, sperrigen stehen zu lassen. Das führte dann aber dazu, dass die gefühligen Lieder einfach kopiert wurden und dann auf Zetteln im Gottesdienst auftauchten.

Weihnachtslieder dürfen gefühlig sein

Fischer: Es wäre falsch und auch gar nicht die Absicht der Gotteslob-Kommission, die stimmungsvolleren Lieder zu verdrängen. Das ist sinnlos und wäre auch theologisch ein Fehler, weil natürlich die Gefühle der Menschen ja ihre legitimen Platz haben. Aber es sollte eben einen oder zwei Texte geben, die eine andere Dimension eröffnen, die ein anderes Bild entwerfen. Und ich glaube, das ist wichtig, diese Reichhaltigkeit der Bildlichkeit und natürlich auch, dass verschiedene Emotionen und verschiedene religiöse Gehalte angesprochen werden.
Ein Plätzchen-Ausstecher in Hakenkreuz-Form war 2009  in der Ausstellung "Von wegen Heilige Nacht – Weihnachten in der politischen Propaganda" im NS-Dokumentationszentrum in Köln zu sehen.
Ein Plätzchen-Ausstecher in Hakenkreuz-Form war 2009 in der Ausstellung "Von wegen Heilige Nacht – Weihnachten in der politischen Propaganda" im NS-Dokumentationszentrum in Köln zu sehen.© dpa / picture alliance / Jörg Carstensen
Dietrich: Es gibt noch ein anderes Beispiel für die Aneignung von Weihnachtsliedern, das noch mal eine ganz andere Problematik aufmacht, das ist das Lied "Es ist für uns eine Zeit angekommen". Das ist eigentlich ein Lied, mit dem die Sternsinger unterwegs waren, also die Krippenspieler aus früheren Zeiten, als man das noch machte, indem man von Tür zu Tür zog, und das wurde im Nationalsozialismus zu einem fröhlichen Winterlied umgedichtet.
Fischer: Ja, das Lied selber – Sie haben es schon angedeutet – stammt aus dem Umfeld des Dreikönigsbrauchtums, stammt aus der Schweiz, und Paul Hermann hat dann eine neue Textfassung geschaffen: "Es ist für uns eine Zeit angekommen und bringt uns eine große Freud’". Da wurde die Gnade durch die Freude ersetzt, und dann heißt es: "übers schneebegrenzte Feld", also da wird nur eine Weihnachtsstimmung, eine Winterstimmung entfaltet. Das ist ein Fall, wo diese Fassung, die noch 1939 entstanden ist, dann wirkmächtig geworden ist auch nach dem Zweiten Weltkrieg.
Das hat auch den ganz spezifischen Grund, dass die nationalsozialistische Ideologie in diesem Text eben nicht explizit zutage tritt, sondern nur so subkutan vorhanden ist oder eher darin zu sehen ist, dass sie das Christliche verdrängen will. Deshalb konnte dieses Lied auch nach dem Zweiten Weltkrieg im Brauchtum oder eben beim Weihnachtssingen weitertradiert werden.

NS-Zeit: Christliche Botschaften wurden ausradiert

Dietrich: Das ist wahrscheinlich sogar in dieser Version populärer als es heute in seiner ursprünglichen Version wäre, oder? Das ist so eine Art deutsches "Winter Wonderland".
Fischer: Genau, und das hängt eben auch so ein bisschen ab natürlich von Verlagsstrategien, also in welchen Liederbüchern wird’s abgedruckt und verkaufen sich dann diese Liederbücher gut. Das kann man auch nicht immer so bewusst steuern oder unterstellen, das sei eine ideologische Maßnahme, das hat manchmal auch etwas mit Zufällen zu tun. Es gibt da einen anderen Fall, das Lied von Hans Baumann, "Hohe Nacht der klaren Sterne".
Hans Baumann war ein dezidierter Nationalsozialist, das Lied wurde auch nach dem Zweiten Weltkrieg weitergesungen, wurde von Heino eingesungen. Auch da ist es so, dass eine Nachtstimmung, eine Winterstimmung beschworen wird, die, wenn man das Lied versteht und die NS-Ideologie zu Weihnachten kennt, dann eins zu eins aufgeht. Wenn man das aber nicht kennt, kann man das aber auch ganz traditionell mit christlichen oder säkularen Inhalten füllen.
Christbaumschmuck mit Runenzeichen und Hakenkreuz im Museumsdorf in Cloppenburg, wo 2007 die Sonderausstellung "Von wegen Heilige Nacht!" gezeigt wurde.
Christbaumschmuck mit Runenzeichen und Hakenkreuz im Museumsdorf in Cloppenburg, wo 2007 die Sonderausstellung "Von wegen Heilige Nacht!" gezeigt wurde.© dpa / picture alliance / Carmen Jaspersen
Dietrich: War das ein gezielter Angriff der nationalsozialistischen Ideologie auf diese Weihnachtslieder?
Fischer: Ja, ich glaube, es gab eben erst einen Versuch, ideologisch eindeutige Lieder zu schaffen, aber das hat nur kleine Kreise angesprochen. Später hat man dann eher versucht, durch eine Art von Säkularität und Winterstimmung die christlichen Inhalte zu ersetzen, das heißt, man hat eine andere Strategie angewandt.
Dietrich: Und wie sollte man dann heute mit diesen Liedern umgehen?
Fischer: Vorsichtig! Natürlich ist es immer ein Fehlschluss zu sagen: Jedes Lied, das aus dem Nationalsozialismus stammt, ist ein nationalsozialistisches Lied. Aber man sollte sich immer diese Geschichte vergegenwärtigen: Wo kommen bestimmte Texte her, und was haben sie bedeutet? In welchen Kontexten stehen sie?

Dogmatik verschwindet, die religiöse Sehnsucht bleibt

Dietrich: Es scheint so eine durchgehende Tendenz bei all den Beispielen zu geben, über die wir jetzt gesprochen haben bei den Weihnachtsliedern, dass die Theologie immer weiter rausgestrichen wird und stattdessen die Emotion, das Gefühlige reinkommt. Ist das so die generelle Bewegung?
Fischer: Ja, wenn man unter Theologie sozusagen die dogmatischen Gehalte, die traditionelle christliche Theologie versteht. Es ist nicht so, wenn man Theologie und Religion weiter versteht. Denn auch diese Gefühlsseite ist natürlich ein Teil der menschlichen Existenz, und auch das hat natürlich eine religiöse Valenz. Und zu sagen, das ist jetzt nur Stimmung und deshalb nur säkular, das wäre auch eine falsche Gleichung.
Dietrich: Das heißt, das ist dann auch so ein bisschen die Ehrenrettung sogar dieser ganzen amerikanischen Weihnachtshits?
Fischer: Ja, ich würde es gar nicht Ehrenrettung nennen. Es gibt ja ganz tolle Lieder, "White Christmas" ist ja auch ein tolles Lied. Und abgesehen davon, dass es natürlich auch verborgene religiöse Gehalte gibt, allein durch diese Metaphorik des Weißen, wo man dann so an Reinheit denkt, sind natürlich diese Inhalte auch von einer gewissen Sehnsucht geprägt. Man kann vielleicht sogar so weit gehen, von einer Utopie, wenn auch einer kleinen, zu reden, der Diskrepanz zwischen der Welt, wie sie ist und wie sie sein sollte. Und auch das spiegelt sich ja in diesen Liedern wider, und das ist ja vielleicht auch eine Sehnsucht, die man religiös verstehen kann, aber nicht religiös verstehen muss.
Dietrich: Was hinter den scheinbar so harmlosen Weihnachtsliedern steckt– ich sprach mit Michael Fischer, geschäftsführender Direktor des Zentrums für Populäre Kultur und Musik in Freiburg.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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