Wider die Willkür des Alphabets
Jeder Leser kennt das Verhängnis: Bücherbestände wachsen so unaufhaltsam wie Pappeln. Alle paar Jahre sind neue Regale fällig, und aus dem Einräumen wird meistens auch ein Umräumen. Jedenfalls dann, wenn man davor zurückschreckt, sämtliche Literaturen dieser Welt über den einen Leisten des Alphabets zu brechen. Nur schon aus Rücksicht auf meinen Schriftstellerfreund Gr. kann ich mir diese Barbarei nicht leisten.
Denn die Willkür des Alphabets würde dafür sorgen, dass Gr. ausgerechnet neben Gu. zu stehen käme, laut Gr. ein Vertreter des übelsten Mittelmaßes, zu allem Überfluss auch noch mit deutlich mehr Erfolg gesegnet als er selbst. Um solchen Konflikten aus dem Weg zu gehen, habe ich meine Bücher bei der letzten Umräum-Aktion in drei Kategorien eingeteilt: Klassiker, Gegenwartsliteratur, Lieblingsautoren.
Wobei sich die Lieblingsautoren von den Klassikern nur dadurch unterscheiden sollten, dass sie noch zu jung und zu lebendig sind, um als solche zu gelten. Doch gerade diese schönste der drei Kategorien erwies sich mit der Zeit auch als die heikelste. Denn über dem Regal der Auserwählten schwebten ständig zwei Fragen: Wer verdient es, neu in den Kreis der Lieblingsautoren aufgenommen zu werden? Und wer gehört, eben doch eher zum Kreti und Pleti der allgemeinen Gegenwartsliteratur?
Der Abstieg in die Liga der bloßen Gegenwartsliteratur war nicht nur für die betreffenden Autoren schmerzlich, sondern auch für mich. Schließlich war jede Degradierung ein Beweis für meine mangelnde literarische Urteilskraft. Also doch wieder zurück zur Barbarei des Alphabets?
Um einen letzten Rest literarischer Vernunft zu retten, habe ich meine Bücher im vergangenen Sommer nun neu nach Sprachfamilien geordnet. Der Preis für die Diktatur der Sprachen allerdings, so stellte sich schnell heraus, besteht in politischen Unkorrektheiten, angesichts derer einem schwindlig wird. Darf man zum Beispiel spanische mit lateinamerikanischen Autoren vermischen? Was haben die englisch schreibenden Autoren aus Afrika mit ihren Kollegen aus den USA und Groß-Britannien zu tun und was mit den Australiern – und was diese wiederum mit dem Rest der anglophonen Welt? Im ehemaligen Ostblock schließlich wird die Ordnung der Sprachen von der Politik vollends zunichte gemacht. Ein solcher Gewissensstrudel ist ein sicheres Zeichen dafür, dass man sich in Teufels Küche manövriert hat.
Angesichts dieses Scheiterns beschließe ich, mich innerhalb der Sprachen doch wieder der bequemen Willkür des Alphabets zu überlassen. Nachdem ich Karl May zu den Erwachsenenautoren rechne, ist er nun der direkte Nachbar von Friederike Mayröcker. Eigentlich ganz hübsch. Aber als Helene Hegemann neben Friedrich Hölderlin zu stehen kommt, kriege ich doch einen Schreck. Das geht zu weit! Welche Erleichterung, als ich auf dem Boden einen übersehenen Bücherstapel entdecke. Hölderlin verdankt die Rettung vor Hegemann nun Christoph Hein, Sorry.
Doch Thomas Kling zur Rechten von Heinrich von Kleist immerhin ist ein Treffer – bei Georg Klein zur Linken von Kleist allerdings bin ich mir weniger sicher. Und mein armer Freund Gr.? Der kommt nun doch neben seinem Intimfeind Gu. zu stehen. Er hat es kommen sehen, und er ist milde gestimmt, angesichts meiner Not. Er hat es gut, denn in seinen Regalen gibt es ausschließlich Klassiker, und die spielen alle in der gleichen Liga. So kann er sich den Luxus leisten, seine Bücher nach dem Prinzip der inneren Verwandtschaft zu ordnen. Flaubert neben Balzac und Stendhal. Kafka neben Beckett. Faulkner neben Dostojewski. Heiner Müller neben Thomas Bernhard.
"Das lebt doch!", ruft er aus, und natürlich hat er Recht. Aber ich hänge auch am Missratenen – was wäre ein Bücherregal ohne Schund, was wäre die Literatur ohne das Schattengewächs der Stilblüten! Ach. Vielleicht war mein Lieblingsautorenregal doch keine so schlechte Idee.
Sieglinde Geisel, Journalistin, wurde 1965 in Rüti/ZH in der Schweiz geboren. Sie studierte in Zürich Germanistik und Theologie und zog 1988 nach Berlin-Kreuzberg. Nach dem Mauerfall verlagerte sich ihr Interesse in den Osten, im Auftrag der "Neuen Zürcher Zeitung" reiste sie für eine Reihe von Städteporträts in die Metropolen Ostmitteleuropas, lebte vorübergehend in Lublin, Polen. 1994 ging sie nach New York, wo sie für vier Jahre als Kulturkorrespondentin für die "Neue Zürcher Zeitung" tätig war. Im Januar 1999 kehrte sie auf eigenen Wunsch nach Berlin zurück. Als freie Journalistin schreibt sie seither über kulturelle und soziale Themen. 2010 erschien ihr Buch "Nur im Weltall ist es wirklich still. Vom Lärm und der Sehnsucht nach Stille".
Wobei sich die Lieblingsautoren von den Klassikern nur dadurch unterscheiden sollten, dass sie noch zu jung und zu lebendig sind, um als solche zu gelten. Doch gerade diese schönste der drei Kategorien erwies sich mit der Zeit auch als die heikelste. Denn über dem Regal der Auserwählten schwebten ständig zwei Fragen: Wer verdient es, neu in den Kreis der Lieblingsautoren aufgenommen zu werden? Und wer gehört, eben doch eher zum Kreti und Pleti der allgemeinen Gegenwartsliteratur?
Der Abstieg in die Liga der bloßen Gegenwartsliteratur war nicht nur für die betreffenden Autoren schmerzlich, sondern auch für mich. Schließlich war jede Degradierung ein Beweis für meine mangelnde literarische Urteilskraft. Also doch wieder zurück zur Barbarei des Alphabets?
Um einen letzten Rest literarischer Vernunft zu retten, habe ich meine Bücher im vergangenen Sommer nun neu nach Sprachfamilien geordnet. Der Preis für die Diktatur der Sprachen allerdings, so stellte sich schnell heraus, besteht in politischen Unkorrektheiten, angesichts derer einem schwindlig wird. Darf man zum Beispiel spanische mit lateinamerikanischen Autoren vermischen? Was haben die englisch schreibenden Autoren aus Afrika mit ihren Kollegen aus den USA und Groß-Britannien zu tun und was mit den Australiern – und was diese wiederum mit dem Rest der anglophonen Welt? Im ehemaligen Ostblock schließlich wird die Ordnung der Sprachen von der Politik vollends zunichte gemacht. Ein solcher Gewissensstrudel ist ein sicheres Zeichen dafür, dass man sich in Teufels Küche manövriert hat.
Angesichts dieses Scheiterns beschließe ich, mich innerhalb der Sprachen doch wieder der bequemen Willkür des Alphabets zu überlassen. Nachdem ich Karl May zu den Erwachsenenautoren rechne, ist er nun der direkte Nachbar von Friederike Mayröcker. Eigentlich ganz hübsch. Aber als Helene Hegemann neben Friedrich Hölderlin zu stehen kommt, kriege ich doch einen Schreck. Das geht zu weit! Welche Erleichterung, als ich auf dem Boden einen übersehenen Bücherstapel entdecke. Hölderlin verdankt die Rettung vor Hegemann nun Christoph Hein, Sorry.
Doch Thomas Kling zur Rechten von Heinrich von Kleist immerhin ist ein Treffer – bei Georg Klein zur Linken von Kleist allerdings bin ich mir weniger sicher. Und mein armer Freund Gr.? Der kommt nun doch neben seinem Intimfeind Gu. zu stehen. Er hat es kommen sehen, und er ist milde gestimmt, angesichts meiner Not. Er hat es gut, denn in seinen Regalen gibt es ausschließlich Klassiker, und die spielen alle in der gleichen Liga. So kann er sich den Luxus leisten, seine Bücher nach dem Prinzip der inneren Verwandtschaft zu ordnen. Flaubert neben Balzac und Stendhal. Kafka neben Beckett. Faulkner neben Dostojewski. Heiner Müller neben Thomas Bernhard.
"Das lebt doch!", ruft er aus, und natürlich hat er Recht. Aber ich hänge auch am Missratenen – was wäre ein Bücherregal ohne Schund, was wäre die Literatur ohne das Schattengewächs der Stilblüten! Ach. Vielleicht war mein Lieblingsautorenregal doch keine so schlechte Idee.
Sieglinde Geisel, Journalistin, wurde 1965 in Rüti/ZH in der Schweiz geboren. Sie studierte in Zürich Germanistik und Theologie und zog 1988 nach Berlin-Kreuzberg. Nach dem Mauerfall verlagerte sich ihr Interesse in den Osten, im Auftrag der "Neuen Zürcher Zeitung" reiste sie für eine Reihe von Städteporträts in die Metropolen Ostmitteleuropas, lebte vorübergehend in Lublin, Polen. 1994 ging sie nach New York, wo sie für vier Jahre als Kulturkorrespondentin für die "Neue Zürcher Zeitung" tätig war. Im Januar 1999 kehrte sie auf eigenen Wunsch nach Berlin zurück. Als freie Journalistin schreibt sie seither über kulturelle und soziale Themen. 2010 erschien ihr Buch "Nur im Weltall ist es wirklich still. Vom Lärm und der Sehnsucht nach Stille".