Wider die scheinbaren Naturgesetze der Ökonomie

Von Klaus Peter Weinert |
Wenn Griechenland kräftig spart, kommt das Land wieder auf die Beine. So lautet die Hoffnung, die Politiker gebetsmühlenartig hervorbringen. Aber stimmt das? Der Wirtschaftsjournalist Klaus Peter Weinert ist skeptisch. Er sagt: Wir glauben zu oft an scheinbare Naturgesetze der Ökonomie.
Im 19. Jahrhundert waren die Menschen von den Naturwissenschaften fasziniert. Die praktischen Erfolge waren unübersehbar: Eisenbahnen, Hochöfen, Maschinen, industrielle Produktion veränderten die einst dörfliche Welt einschneidend. Ohne die Erkenntnisse insbesondere der Mechanik wäre dies undenkbar gewesen.

Eine Wissenschaft, die sich damals zu etablieren begann, war von den Methoden der Physik und Mathematik besonders angetan: die Ökonomik oder Wirtschaftswissenschaft. Wie eine Naturwissenschaft wollte sie Gesetze der Wirtschaft entdecken.

Ein Beispiel: Dem Deutschen Hermann Heinrich Gossen fiel im 19. Jahrhundert auf, dass das erste Glas Bier sehr gut mundet, das zweite schon weniger und so weiter. Flugs entwickelte er daraus das Gossensche Gesetz des Grenznutzens. Dieses erklärt selbstverständlich nicht, warum manche Menschen dennoch weitertrinken, obwohl der Nutzen doch ständig abnimmt.

Ein anderes, brisanteres Gesetz entstand in den 1970er-Jahren, als aus verschiedenen Faktoren die so genannte natürliche Arbeitslosenrate ermittelt wurde. Und wer wollte schon etwas gegen eine natürliche Arbeitslosenrate sagen? Interessant ist, dass dieses Gesetz in einer Zeit mit hoher Inflation und hoher Arbeitslosigkeit aufgestellt wurde. Die waren wiederum wesentlich durch die damalige große Weltwirtschaftskrise verursacht, nachdem das internationale Währungssystem von Bretton Woods zusammengebrochen war. Die Kapitalanleger hatten wenig Interesse daran, dass der Staat mit Ausgaben versuchen würde, die Arbeitslosigkeit abzubauen. Ein Bodensatz von Arbeitslosigkeit war daher durchaus erwünscht. Ein Zufall? Mittlerweile jedenfalls wird dieses Gesetz mit spitzen Fingern angefasst.

Vor ein paar Jahren erst haben die amerikanischen Ökonomen Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff ein Gesetz zur Staatsverschuldung aufgestellt. Es besagte: Sobald die Staatsschulden 90 Prozent des Bruttosozialprodukts übersteigen, bricht das Wirtschaftswachstum ein. Auf diesem Gesetz baut auch die Sparpolitik in Europa auf. Deshalb wurden in Griechenland Renten gekürzt und Krankenhäuser geschlossen. Allerdings stimmt das Gesetz nicht: Die Ökonomen haben sich schlicht verrechnet und methodische Fehler gemacht, wie inzwischen klar ist.

Keine Gesetze wie in der Physik
Wenn in der Wirtschaft von "Gesetzen" oder "natürlichen Gesetzen" gesprochen wird, ist immer größte Vorsicht geboten. Die Ökonomik ist keine Naturwissenschaft. Und es gibt in der Wirtschaft keine Gesetze wie in der Physik. Die Schwerkraft kann kein Parlamentsbeschluss der Welt außer Kraft setzen, die Sparauflagen für Südeuropa oder die Hartz-IV-Gesetze könnte man schon ändern. Was wir ökonomisch oder sozialökonomisch machen können, hängt immer auch von den gesellschaftlichen Verhältnissen ab, und auch davon, wer wie viel Einfluss hat.

In der Ökonomik werden keine Gesetze entdeckt, sondern aufgestellt. Wir Menschen schreiben die Regeln zu einem großen Teil selbst, weil wir auf bestimmte politische und wirtschaftliche Strukturen reagieren müssen. Doch diese Gesetze funktionieren nur solange, wie sich die Menschen auf ein bestimmtes System einigen, und dieses System muss dauerhaft stabil sein. Davon geht die klassische Ökonomik auch aus, real ist es aber selten der Fall.

Natürlich gibt es Grundsätze. Einen Mindestlohn von 20 Euro zu fordern, wäre gegenwärtig der Untergang für viele Firmen. Aber das ist kein Gesetz, sondern der Grund liegt in den ökonomischen Verhältnissen, die das heute nicht zulassen; in Zukunft ist das nicht auszuschließen.

Wirtschaft wird von Menschen für Menschen gemacht. Die Regierungen, die Parlamente, die Lobbyisten, die Ökonomen, die Topmanager und wir Bürger bestimmen, wie wir ökonomisch leben. Dass Deutschland dabei von den Machtstrukturen der globalen Welt abhängig ist, daraus folgt wahrscheinlich das einzige ökonomische Gesetz, das tatsächlich Bestand hat. Es lautet ganz schlicht: Wer Geld, Macht und Einfluss hat, der bestimmt maßgeblich über die scheinbaren Naturgesetze der Ökonomik.

Klaus Peter Weinert ist Wirtschaftsjournalist. Er studierte Germanistik, Soziologie, Volkswirtschaftslehre und Filmwissenschaften. Weinert arbeitet für Rundfunk, Fernsehen und Printmedien.
Klaus Peter Weinert
Klaus Peter Weinert© privat
Mehr zum Thema