Wider die Kumpanei des Westens mit arabischen Diktatoren

Von Bruno Schoch · 16.02.2011
Auf der einen Seite setzt der Westen sich ein für Demokratie und Menschenrechte. Auf der anderen geht die Angst um vor einer Destabilisierung des Mittleren Ostens. Die Furcht vor Islamisten ließ lange handfeste Interessen über demokratische Ideale triumphieren.
In Frankreich sprengt eine dünne Broschüre derzeit alle Auflagenrekorde. Geschrieben hat sie der 93-jährige Stéphane Hessel, Mitglied der Résistance, der den Nazis mit unsagbar viel Glück entronnen ist. Als Diplomat hat er dann die wegweisende Erklärung der Menschenrechte mit verfasst, die in der UNO am 10. Dezember 1948 feierlich verabschiedet wurde. Diese Menschenrechte gelten universell, oder besser: Sie sollen überall gelten.

Hessels Broschüre heißt "Indignez-vous", "Empört euch!" Sie ruft dazu auf, an die Résistance anzuknüpfen, die Gleichgültigkeit zu überwinden und sich für Gerechtigkeit und Frieden zu engagieren. Überall. Und mit einem Mal findet die Aufforderung Gehör. Unversehens überschlagen sich die Ereignisse.

Zuerst gehen in Tunesien Zehntausende auf die Strasse und fordern "Brot, Freiheit und Würde". Empörung ergreift die Massen. Sie lassen sich nicht mehr einschüchtern. Mit gewaltfreien Demonstrationen zwingen sie den Präsidenten zurückzutreten. Die ungestüme Freiheitsbewegung steckt an, der Funke springt über.

Präsident Mubarak, der Ägypten seit 1981 mit eiserner Hand regierte, muss gehen. 30 Jahre half ihm das Schreckgespenst des Islamismus, sich als Hüter der Stabilität zu empfehlen. Ägypten kassierte dafür enorme westliche Wirtschafts- und Militärhilfe – allein von Deutschland gut 110 Millionen Euro pro Jahr.

Der Westen befindet sich in einem Dilemma. Auf der einen Seite setzt er sich ein für Demokratie und Menschenrechte. Auf der anderen geht die Angst um vor einer Destabilisierung der Region. Der Mittlere Osten gilt dem unersättlichen Öl-Durst vorrangig als Zapfhahn, und die Angst vor gewaltbereiten Islamisten ließ lange handfeste Interessen über demokratische Ideale und Ideen triumphieren.

Nicht nur in den USA, auch in Europa. Seine Regierungen applaudierten, als das Militär in Algerien 1991 den zweiten Wahlgang kurzerhand absagte, weil die Front Islamique du Salut zu gewinnen drohte. In Ägypten war Mubarak eine Pyramide gegen Islamismus, für regionale Stabilität und für Frieden mit Israel. Dass er nicht nur Muslimbrüder, sondern auch Demokraten unterdrückte, nahmen wir in Kauf.

Ich sage "wir" mit Bedacht. Denn ich meine nicht nur die Staaten. Es geht auch um uns. Gewiss ist es eine widerliche Komplizenschaft, wenn sich französische Minister ihre Ferien von arabischen Potentaten bezahlen ließen. Doch wer außer "Amnesty International" hat bei uns in den letzten Jahren dagegen laut protestiert, dass fast alle arabischen Länder Oppositionelle einsperren, foltern, umbringen?

Wo waren die Stimmen der linken Intellektuellen? Vor lauter Widerwillen gegen Bushs Irak-Krieg und gegen die Phraseologie seiner militanten Demokratierhetorik, so scheint mir, versäumten es viele, sich über die brutale Repression in arabischen Ländern öffentlich zu empören.

Indignez-vous statt Kumpanei im Namen der Stabilität! Diese hat arabischen Immobilismus und autoritäre Modernisierungsblockaden gestützt. Gewiss können und wollen wir niemandem seine Demokratie vorschreiben. Aber Angst vor dem Islamismus allein ist nicht der beste Ratgeber. Differenzierung tut not. Vor allem aber praktische Solidarität mit denen, die angefangen haben, ihre kleptokratischen Autokraten zum Teufel zu jagen und für ihre Emanzipation und eine bessere Gesellschaft zu kämpfen.

Bruno Schoch, geb. 1947 in Zürich, studierte Geschichte und Philosophie in Basel und Frankfurt am Main. Er ist Mitarbeiter der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (seit 1978) und einer der Mitherausgeber des jährlich erscheinenden "Friedensgutachtens" (seit 1995). Seine Arbeitsschwerpunkte sind "Nationalismus und Demokratisierung", die Region Balkan sowie der gewaltbereite Islamismus.

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