Wider die Klischees

Von Olga Hochweis |
Im November 2010 jährt sich zum 100.Mal der Todestag des russischen Schriftstellers Lew Tolstoi. Bis heute gilt seine Gattin Sofija Andrejewna Tolstaja als gierige Frau, die ihren Mann in den Tod getrieben hat. Dieses klischeebeladene Bild korrigiert hat die Slavistin und Übersetzerin Ursula Keller – seit vielen Jahren beschäftigt sie sich mit der Tolstoi-Witwe.
Im Jahr 2009 hat Keller zusammen mit Natalja Sharandak eine Tolstaja-Biografie verfasst und eine erste Erzählung Tolstajas herausgegeben. Nun erscheint im Manesse-Verlag die zweite Erzählung „Lied ohne Worte“. Das Manuskript schlummerte über 100 Jahre – bislang unveröffentlicht – in einem Moskauer Archiv. Ursula Keller hat diese Welt-Erstveröffentlichung ins Deutsche übertragen.

Ursula Keller: „Dieses Landgut hat einfach eine wahnsinnig tolle Atmosphäre. Wir waren zuerst in Moskau im Archiv, und Moskau ist ja immer sehr anstrengend, dieser Moloch einer Großstadt, und dann sind wir in Jasnaja Poljana angekommen , und man geht da auf dieses Landgut zu und da geht einem wirklich das Herz auf, hier sieht man das Wohnhaus hinter den Birken.“

Ursula Keller hat ihren Laptop geöffnet und zeigt Aufnahmen von Jasnaja Poljana – eine Woche lang hat sie dort zusammen mit ihrer Mitherausgeberin Natalja Sharandak für die Tolstaja-Biografie recherchiert.

Keller: „Da gibt es im Wald gelegen nur so ein Hotel – da fährt auch kein Bus hin. Da mussten wir also jeden Tag, wie wahre Tolstojaner drei Kilometer zu Fuß zum Landgut gehen – und es gibt dort kein Restaurant und nichts, da gibt es nur so einen Laden (...) da haben wir uns also aus Konserven ernährt.“

Bei Tee und Keksen sitzen wir auf einem blauen Sofa in der geräumigen Wohnung von Ursula Keller in Berlin- Charlottenburg. Bruno leistet uns Gesellschaft – der freundliche Hund des Hauses, ein schwarz-weißer Bostonterrier, der sich den Bauch streicheln lässt, während wir uns durch die Fotos von Jasnaja Poljana klicken.

Keller: „Wir sind da morgens hin in die Bibliothek, haben diese Autobiografie erhalten, stundenlang da gesessen und exzerpiert – wir brauchten gar nichts zu essen – da war so viel geistige Nahrung, das war einfach so toll, ja!“

Genau vier Jahre sind seit der Recherche vergangen. Ursula Keller – eine groß gewachsene Frau mit kurzen, dunklen Haaren – klingt so begeistert, als sei sie erst letzte Woche dort gewesen. Die Schmuseeinheiten für Hund Bruno hat sie unterbrochen. Er widmet sich jetzt sowieso seiner Körperpflege, geräuschvoll. Wir räumen das Feld.

Keller: „Bruno bleibt allein auf dem Sofa“

Ursula Keller schließt ihren Laptop. Auch ohne Bilder bleiben wir beim Thema: Sofija Tolstaja.

Alles begann, als 1994 in einer russischen Literaturzeitschrift deren Erzählung „Eine Frage der Schuld“ erschien. In Russland blieb Tolstajas literarische Replik auf die Kreutzersonate ihres Mannes eher unbeachtet. Für Ursula Keller dagegen war die Lektüre eine kleine Offenbarung.

Sofija Tolstaja war mitnichten die frustrierte, habgierige Ehefrau eines großen Denkers. Sie war kreativ und hochbegabt, malte, schrieb, machte Musik – und fotografierte. Und sie war keine Einzelfigur:

Keller: „Wenn man erst einmal in die Thematik einsteigt, dann sieht man, wie viele Frauenpersönlichkeiten es um die Jahrhundertwende in St.Petersburg und Moskau gab .. das ist eigentlich völlig unbekannt, aber wahnsinnig interessant- es ist wirklich eine kleine Schatzkiste- und diese Schatzliste ist noch lange nicht ausgeschöpft.“

Ursula Keller wurde 1964 in Lübeck geboren. Aufgewachsen ist sie mit zwei Schwestern in Stuttgart. Es waren die Bücher Dostojewskis, die sie zum Slavistik/Germanistik-Studium nach Berlin führten.

Nach dem Examen arbeitete Ursula Keller als Wissenschaftlerin, als Übersetzerin von Texten unbekannter Schriftstellerinnen. 2004 erschien ein Essayband über russische Salondamen im vorrevolutionären St. Petersburg, den sie zusammen mit ihrer Partnerin Natalja Sharandak geschrieben hatte. Im Frühjahr 2009 dann die gemeinsame Biografie über Sofija Tolstaja und die Herausgabe von „Eine Frage der Schuld“ – beides mit überraschendem Widerhall.

Keller: „Selbst der Verlag war von diesem Erfolg überrascht. Das hatten sie nicht gedacht!“

Die zweite Tolstaja-Erzählung – , von Ursula Keller übersetzt, heißt „Lied ohne Worte“. Es war schwer, die Erstveröffentlichungsrechte für das Werk in Moskau zu bekommen. Ursula Keller profitierte dabei von der Diplomatie ihrer Co-Partnerin Natalja Sharandak, die auch verschlossene Türen in Russland irgendwann öffnen konnte.

Beide Frauen ergänzen sich ideal. Für ihr nächstes Buchprojekt mit Briefen der Eheleute Tolstoi nimmt die Muttersprachlerin Sharandak aus rund 3000 Seiten Material eine Auswahl vor. Ursula Keller übersetzt die Briefe ins Deutsche. Aber Beruf und Leben verlangen auch klare Trennungen:

Keller: „Natascha sagt immer, sie muss bei mir einen Termin machen. Wenn ich arbeite, kann ich nicht gestört werden. Und wenn ich Pause mache, dann will ich von der Arbeit nichts hören. Natascha dagegen ist so im Fluss, dass sie ständig darüber reden will, und das kann ich nicht!“

Einer, der zwar weder Russisch noch Deutsch kann und trotzdem seinen zentralen Platz hat, ist Bruno –, der freundliche Bostonterrier. Seine Bedürfnisse spielen hier auch eine Rolle. Es kann im Leben schließlich nicht nur um neu entdeckte „Frauenpersönlichkeiten“ gehen ...

Keller: „Gegen drei ist Kaffeepause. Da kriegt Bruno auch immer einen kleinen Imbiss – und wenn wir dann ein bisschen überziehen, dann wird er ganz unruhig, läuft zwischen den Zimmern hin und her und sagt, hier! Es ist Zeit für meine Pause.“
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