Wider die Föderalismuskritik
Föderalismus kann nervig sein: Wenn etwa bei einem Umzug von Oldenburg nach Stuttgart Schüler und Eltern mit neuen Anforderungen konfrontiert werden. Aber Bundesbehörden machen nicht immer alles besser, die Aufteilung auf die Länder hat sich bewährt, meint Markus Reiter.
Bei unseren europäischen Nachbarn erleben wir gegenwärtig eine Blüte des Föderalismus. Die Mehrheit der Schotten wünscht sich mehr Autonomie, die belgischen Sprachgruppen bauen die Zuständigkeiten ihrer Bundesstaaten aus, die Schweizer verteidigen ihre kantonale Unabhängigkeit. Auch Spanier, Franzosen und Italiener wollen weniger staatlichen Zentralismus.
Nur in der Bundesrepublik Deutschland hat der Föderalismus einen schlechten Ruf. Vielleicht, weil man verlernt hat wertzuschätzen, an was man gewöhnt ist. Dabei lassen es Bürger und Politiker nicht an abstrakten Bekenntnissen zum Föderalismus fehlen. Aber sobald es konkret wird, verunglimpft man ihn als "Kleinstaaterei".
Egal, ob es um das Abitur, ganz allgemein um Schulsysteme, um die Lehrerausbildung, das Hochschulwesen, die Lebensmittelaufsicht, die Atomaufsicht, den Verfassungsschutz, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk oder den Straßenbau geht - stets scheint es Argumente dafür zu geben, warum gerade in diesem Bereich Schluss sein sollte mit der Bundesstaatlichkeit.
Erstaunlicherweise setzen dabei Menschen, die sonst dem Staat kritisch gegenüberstehen, ein großes Vertrauen in den Zentralstaat. Wenn erst einmal die entsprechenden Zuständigkeiten in einer Bundesbehörde gebündelt seien, dann – so die Vorstellung – laufe alles wie am Schnürchen. Dabei zeigt die Lebenserfahrung bei bereits zentralisierten Aufgaben: Das ist mitnichten so. Im Gegenteil: Wenn auf Bundesebene etwas schief läuft, dann läuft es in einem viel größeren Maßstab schief.
Nehmen wir als Beispiel die Schulpolitik. Sicherlich mag es nervig sein, wenn bei einem Umzug von Oldenburg nach Stuttgart Schüler und Eltern mit neuen Anforderungen konfrontiert werden. Es kann auch sein, dass in einem Gymnasium in Bayern höhere Ansprüche gestellt werden als in einem Gymnasium in Berlin.
Ob das Gymnasium in Bayern dabei die gesellschaftlich besseren Ergebnisse erzielt, sei einmal dahingestellt. In jedem Fall aber ist dieser Unterschied das Resultat eines Wettbewerbs der Systeme. Wer sagt denn, dass ein Bundesschulministerium in Berlin den gymnasialen Standard auf bayerischem und nicht etwa auf bremischem Niveau festlegen würde?
Wie groß wäre das Geschrei, wenn plötzlich ein Ministerialrat in einer Berliner Zentralbehörde über schulische Angelegenheiten in Baden-Württemberg entschiede? Wenn bei entsprechender bundespolitischer Konstellation in Bayern die Gesamtschule durchgesetzt würde oder in Berlin wieder abgeschafft?
Zentralismus bringt nicht automatisch bessere Ergebnisse: Das französische Schulsystem mit seinen zentralstaatlich festgelegten Prüfungen erweist sich in den Pisa-Untersuchungen als keineswegs leistungsfähiger als das deutsche, föderalistische.
Der deutsche Föderalismus krankt nicht daran, dass die Bundesländer zu eigenständig sind, sondern daran, dass sie stets ihre regionalen Lösungen bundesweit durchsetzen möchten, dass sie also mit Unterschieden nicht umgehen können.
Das würde in unserem Beispiel heißen: Statt dass die Bayern versuchen, das bayerische Abitur in Bremen durchzusetzen, sollten sie die Bremer Abiturienten mit deren Hochschulreife akzeptieren. Bremen wiederum müsste sich bemühen, von den erfolgreicheren Bildungswesen zu lernen. Denn auch das gilt: ob Bund oder Länder, dem Grundgesetz sind alle staatlichen Ebenen verpflichtet. Und das fordert die "Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse" in Deutschland, nicht die Gleichheit.
Sicherlich: Der Preis dieses wettbewerblichen, föderalen Systems sind Ungerechtigkeiten im Einzelfall. Es stellt auch hohe Anforderungen an die Flexibilität der Bundesbürger. Aber kein System ist hundertprozentig gerecht. Ein Ende des Föderalismus und ein zentralstaatlicher Dirigismus wären auf jeden Fall die schlechtere Alternative.
Markus Reiter arbeitet als Schreibtrainer, Journalist und Publizist. Er studierte Politikwissenschaft, Volkswirtschaftslehre und Geschichte an den Universitäten Bamberg, Edinburgh und FU Berlin. Unter anderem war er Feuilletonredakteur der FAZ und schreibt Bücher über Kultur, Sprache und Kommunikation. Mehr unter www.klardeutsch.de
Nur in der Bundesrepublik Deutschland hat der Föderalismus einen schlechten Ruf. Vielleicht, weil man verlernt hat wertzuschätzen, an was man gewöhnt ist. Dabei lassen es Bürger und Politiker nicht an abstrakten Bekenntnissen zum Föderalismus fehlen. Aber sobald es konkret wird, verunglimpft man ihn als "Kleinstaaterei".
Egal, ob es um das Abitur, ganz allgemein um Schulsysteme, um die Lehrerausbildung, das Hochschulwesen, die Lebensmittelaufsicht, die Atomaufsicht, den Verfassungsschutz, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk oder den Straßenbau geht - stets scheint es Argumente dafür zu geben, warum gerade in diesem Bereich Schluss sein sollte mit der Bundesstaatlichkeit.
Erstaunlicherweise setzen dabei Menschen, die sonst dem Staat kritisch gegenüberstehen, ein großes Vertrauen in den Zentralstaat. Wenn erst einmal die entsprechenden Zuständigkeiten in einer Bundesbehörde gebündelt seien, dann – so die Vorstellung – laufe alles wie am Schnürchen. Dabei zeigt die Lebenserfahrung bei bereits zentralisierten Aufgaben: Das ist mitnichten so. Im Gegenteil: Wenn auf Bundesebene etwas schief läuft, dann läuft es in einem viel größeren Maßstab schief.
Nehmen wir als Beispiel die Schulpolitik. Sicherlich mag es nervig sein, wenn bei einem Umzug von Oldenburg nach Stuttgart Schüler und Eltern mit neuen Anforderungen konfrontiert werden. Es kann auch sein, dass in einem Gymnasium in Bayern höhere Ansprüche gestellt werden als in einem Gymnasium in Berlin.
Ob das Gymnasium in Bayern dabei die gesellschaftlich besseren Ergebnisse erzielt, sei einmal dahingestellt. In jedem Fall aber ist dieser Unterschied das Resultat eines Wettbewerbs der Systeme. Wer sagt denn, dass ein Bundesschulministerium in Berlin den gymnasialen Standard auf bayerischem und nicht etwa auf bremischem Niveau festlegen würde?
Wie groß wäre das Geschrei, wenn plötzlich ein Ministerialrat in einer Berliner Zentralbehörde über schulische Angelegenheiten in Baden-Württemberg entschiede? Wenn bei entsprechender bundespolitischer Konstellation in Bayern die Gesamtschule durchgesetzt würde oder in Berlin wieder abgeschafft?
Zentralismus bringt nicht automatisch bessere Ergebnisse: Das französische Schulsystem mit seinen zentralstaatlich festgelegten Prüfungen erweist sich in den Pisa-Untersuchungen als keineswegs leistungsfähiger als das deutsche, föderalistische.
Der deutsche Föderalismus krankt nicht daran, dass die Bundesländer zu eigenständig sind, sondern daran, dass sie stets ihre regionalen Lösungen bundesweit durchsetzen möchten, dass sie also mit Unterschieden nicht umgehen können.
Das würde in unserem Beispiel heißen: Statt dass die Bayern versuchen, das bayerische Abitur in Bremen durchzusetzen, sollten sie die Bremer Abiturienten mit deren Hochschulreife akzeptieren. Bremen wiederum müsste sich bemühen, von den erfolgreicheren Bildungswesen zu lernen. Denn auch das gilt: ob Bund oder Länder, dem Grundgesetz sind alle staatlichen Ebenen verpflichtet. Und das fordert die "Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse" in Deutschland, nicht die Gleichheit.
Sicherlich: Der Preis dieses wettbewerblichen, föderalen Systems sind Ungerechtigkeiten im Einzelfall. Es stellt auch hohe Anforderungen an die Flexibilität der Bundesbürger. Aber kein System ist hundertprozentig gerecht. Ein Ende des Föderalismus und ein zentralstaatlicher Dirigismus wären auf jeden Fall die schlechtere Alternative.
Markus Reiter arbeitet als Schreibtrainer, Journalist und Publizist. Er studierte Politikwissenschaft, Volkswirtschaftslehre und Geschichte an den Universitäten Bamberg, Edinburgh und FU Berlin. Unter anderem war er Feuilletonredakteur der FAZ und schreibt Bücher über Kultur, Sprache und Kommunikation. Mehr unter www.klardeutsch.de

Markus Reiter© die arge lola