Wider die "Arschkriecherei"

Von Jochen Stöckmann |
"Auschwitz: nie davon gehört”. So hatte der Soziologe Alphons Silbermann seine Studie genannt, der zufolge jeder fünfte Jugendliche in Deutschland nichts von den Vernichtungslagern wusste. Neben der Erforschung des Nationalsozialismus' beschäftigte sich der Soziologe auch mit so alltäglichen Dingen wie Schlagern und Kücheneinrichtungen.
Aus dem Jungen sollte unbedingt ein Akademiker werden: "Mein Sohn, der Herr Doktor" – so umreißt der am 11. August 1909 in Köln geborene Alphons Silbermann in seiner Autobiografie die Aufstiegsträume des Vaters, eines wohlhabenden jüdischen Kaufmanns.

"Meine Ambition war Musiker zu werden, Kapellmeister. Aber davon kann man ja nicht leben, das war ein Hungerberuf – und Bohemien sowieso. Für uns Judenjungen gab es an sich nur zwei Fächer: Das war der juristische Beruf oder der Ärzteberuf, also Medizinstudium."

Alphons Silbermann entschied sich für die Rechtswissenschaft, promovierte 1934 bei dem Staatsrechtler Hans Kelsen. Sozusagen in letzter Minute, bevor seine Flucht vor den Nazis begann. Durch Holland und Frankreich bis nach Australien führte ihn eine Odyssee, an deren Ende 1961 die Rückkehr nach Köln stand, als Professor der Soziologie – mit starken Neigungen für die Musik: Neben Forschungen zu den Massenmedien veröffentlichte Silbermann eine Biografie über den Operettenkönig Jacques Offenbach:

"Alldieweil ja der Offenbach in den Nazizeiten verboten war und sogar seine Sachen verbrannt wurden, - Partituren und so weiter - da gab es eine gewisse Affinität, denn wir waren beide Emigranten."

Und beide kannten das "Pariser Leben": Als Kellner, als "Monsieur Alphonse" hatte sich der Herr Doktor Silbermann in der Seine-Metropole durchgeschlagen, bevor er dann nach Australien weiterzog. Der Not gehorchend eröffnete der Immigrant in Sydney einen Schnellimbiss. Das Einkommen aus diesem stetig sich vergrößernden Hamburger-Geschäft nutzte Silbermann in mehrfacher Hinsicht als Startkapital für eine akademische Karriere. Aus dem "Flaneur des Jahrhunderts", so der Titel seiner Lebensbeschreibung, wurde ein Soziologe:

"Das heißt, dass man also nicht in den geisteswissenschaftlichen Wolken herumfummelt, sondern sich selbst sieht, indem man die eigenen Erfahrungen dann in das Wissenschaftliche überträgt."

Nicht in der dünnen Höhenluft des Elfenbeinturms, sondern mitten im prallen Leben tummelte sich der Soziologe Silbermann, untersuchte neben den Existenzbedingungen literarischer Übersetzer auch Wohnungseinrichtungen oder Unterschiede zwischen Küchen und Bädern in west- und ostdeutschen Haushalten. Dieses Soziale, diese Lust am Gesellschaftlichen in allen Facetten, das förmliche Auskosten ganz alltäglicher Widersprüche vermisste der Liebhaber der leichten Muse bei seinen Kollegen, die auf Statistiken, auf Zahlenkolonnen und Einschaltquoten starrten. Für Silbermann aber, der wie ein Dandy auftrat und sich offen zu seiner Homosexualität bekannte, war Gesellschaft stets etwas anderes als nur die Mehrheitsmeinung. Deren bedrückende, ja: beängstigende Seite hatte er in einer ganzen Reihe von Büchern über den Antisemitismus beschrieben. Aber auch zur Studentenbewegung von 68 hatte der Weltbürger mit Manieren seine eigene, durchaus zweigeteilte Meinung. Einerseits mokierte er sich über die schlecht erzogenen "Rotzbengel" – andererseits sah er in ihrem rebellischen Verhalten durchaus Vorzüge:

"Und es hat auch noch dazu beigetragen, dass viele der Nazi-Ideologien, die in den Köpfen vieler meiner Kollegen nach wie vor vorhanden gewesen sind, durchbrochen worden sind."

Dabei mag karrierefördernde Anpassung im Spiel gewesen sein: Dieser typisch deutschen "Kunst der Arschkriecherei" ging Alphons Silbermann 1997 nach, mit größter Wonne und gewohnter Lust an drastischen Formulierungen. Auch Bonmots standen ihm zu Gebote, etwa beim Parieren von Vorwürfen wegen seiner langjährigen Nebentätigkeit als persönlicher Kommunikationsberater für den Verleger Axel Springer:

"Das erinnert mich wieder an die Apo: Da komme ich in den Hörsaal, von oben rein, und da sah ich an der Tafel 'Silbermann – Springerknecht'. Da bin ich hingegangen, hab mich umgedreht, hab das angeguckt – und hab gesagt: 'Jawohl, meine Damen und Herren, das stimmt. Er kann sich mich leisten!"

Am Ende aber verbarg sich hinter Wortwitz und Wurstigkeit womöglich eine kaum vernarbte Wunde: Alphons Silbermann, der am 4. März 2000 in Köln gestorben ist, war vom Soziologen René König 1961 eingeladen worden, in jenes Deutschland zurückzukehren, wo die Nazis fast alle Mitglieder seiner Familie umgebracht hatten. Er hatte lange überlegt – und war dann zurückgekommen:

"Und zwar nicht, um Vorwürfe zu machen und Geschrei und Theater zu machen, sondern vor allen Dingen, um der Jugend zu helfen, von diesen Indoktrinationen, von diesen Beeinflussungen, denen sie unterlegen war, freizukommen."