Westsahara

Der vergessene Aufstand der Sahrauis

15:50 Minuten
Aminetu Haidar ist die bekannteste Aktivistin für eine von Marokko unabhängige Westsahara.
Aminetu Haidar ist die bekannteste Aktivistin für eine von Marokko unabhängige Westsahara. © dpa / picture alliance / Jorge Zapata
Von Mounia Meiborg |
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Seit 1975 hält Marokko die Westsahara besetzt und verwehrt den Bewohnern ein Referendum über ihre Unabhängigkeit. Auch junge Sahrauis fügen sich in das neue System: Sie wollen lieber ein friedliches Leben unter marokkanischer Herrschaft als einen Krieg für die Unabhängigkeit.
El Aaiún, eine Stadt am Westrand der Sahara. Etwa 300 Zuschauer drängen sich an eine Straßenabsperrung. Dahinter: eine Bühne und ein aufblasbares Zieltor, Start- und Endpunkt eines Radrennens. 58 Fahrer aus Europa und Nordafrika sind gekommen.
Der Moderator begrüßt die marokkanische Mannschaft. Auch ein deutsches Team steht an der Startlinie. Nicht vertreten ist eine Mannschaft der einheimischen Bevölkerungsgruppe, der Sahrauis.
Der völkerrechtliche Status der Westsahara ist umstritten. Auf internationalen Karten ist das Gebiet von der Größe Italiens oft gestrichelt eingezeichnet. Marokko hingegen zählt die Westsahara zum eigenen Staatsgebiet. Dabei marschierten die marokkanischen Truppen erst 1975 in den Küstenstreifen ein, zuvor war es eine spanische Kolonie. Seither gehört die Westsahara – aus Sicht der Besatzer – zu Marokko. Nicht ohne Widerstand. Viele ursprüngliche Bewohner, die Sahrauis, fordern seit bald 40 die Unabhängigkeit.
Marokko arbeitet dagegen – auch mit diesem Radrennen. Es soll medienwirksame Erfolgsmeldungen aus der Region produzieren. Hier ist es sicher, soll der deutsche Fahrer Matthias Schnapka am Flughafen berichten:
"Wir erfüllen hier eine gewisse Funktion, dass Marokko sich hier zeigen möchte und deshalb hier ein Radrennen veranstaltet."
Marokko will den Bildern sahrauischer Unabhängigkeitsaktivisten etwas entgegensetzen. Das Fernsehen des Nachbarlandes Algerien zeigt die teilweise schon älteren Aufnahmen von marokkanischen Polizisten, die auf Demonstranten einprügeln. Die Sahrauis haben blutige Gesichter und zeigen das Victory-Zeichen in die Kamera.
Die bekannteste Vertreterin der Sahrauis ist Aminatou Haidar. Sie trägt eine leuchtend gelbe Melfa, das traditionelle sahrauische Frauengewand, das locker über den Kopf gezogen wird, so dass der Haaransatz frei bleibt. Sie leitet die Menschenrechtsorganisation CODESA, die von den marokkanischen Behörden verboten wurde. Ihre Mitglieder dürfen deshalb kein Büro anmieten und treffen sich im Wohnhaus des Generalsekretärs.
Auf ihrem Tablet-Computer recherchiert Aminatou Haidar zu einem sahrauischen Mann, der vor ein paar Tagen bei einer Demonstration für die Unabhängigkeit festgenommen wurde. Derzeit säßen über 70 Sahrauis im Gefängnis, weil sie sich politisch engagiert hätten, sagt Haidar. Ihre Organisation berät die Inhaftierten und dokumentiert Menschenrechtsverletzungen.
Aminatou Haidar: "Es wird immer noch gefoltert, in Polizeibüros, in den Straßen. Dabei hat Marokko die internationale Konvention gegen Folter unterschrieben. Aber die Marokkaner wenden sie nicht an. Die Justiz ist leider nicht unabhängig; hier in der Sahara wird sie instrumentalisiert. Richter und Staatsanwälte können keine freien Entscheidungen treffen, weil sie Anweisungen von oben erhalten."
Aminatou Haidar selbst wurde bei Demonstrationen verhaftet und geschlagen. Viele Zeitungen nennen die 48-Jährige inzwischen "Mahatma Gandhi der Westsahara", weil auch sie gewaltfreien Widerstand leistet.
Aminatou Haidar: "Wir Sahrauis, die unter marokkanischer Besatzung und Verwaltung leben, haben keine Geduld mehr. Unsere Rechte werden mit Füßen getreten. Wir werden marginalisiert, wir profitieren nicht vom Rohstoffreichtum unseres eigenen Landes. Wir Sahrauis leben hier als Menschen dritter Klasse. All unsere Rechte werden uns vorenthalten, ob wirtschaftlich, sozial oder politisch."
Ein langer Sandwall als Sperranlage
16 Jahre lang, seit 1975, herrschte Krieg zwischen Marokko und der sahrauischen Befreiungsbewegung, der Frente Polisario. Daraufhin flohen viele Sahrauis in das benachbarte Algerien, wo sie heute noch in Flüchtlingslagern leben. Die marokkanische Regierung hingegen baute einen Sandwall, den sogenannten Berm, um sich vor Angriffen zu schützen. Der Wall ist mit Landminen und Soldaten gesichert und mit 2.700 Kilometern die längste politische Sperranlage der Welt.
Die UNO vermittelte 1991 einen Waffenstillstand. Es gab einen Friedensplan. Der sah auch ein Unabhängigkeits-Referendum vor, aber darauf warten die rund 500.000 Sahrauis bis heute. Die marokkanische Führung bagatellisiert ihren Widerstand und sie gibt einigen Sahrauis hohe Posten in Politik und Wirtschaft, um sie auf ihre Seite zu ziehen. So wie beim Wali, dem Gouverneur, von El Aaiún. Jahrzehntelang war Yahdih Bouchaab ein hoher Funktionär der Befreiungsbewegung Frente Polisario. Im Jahr 2003 wechselte er die Seite und wurde Berater im marokkanischen Außenministerium, nur drei Jahre später war er Botschafter. Heute sagt der ehemalige Unabhängigkeitskämpfer über den Konflikt:
"Es gibt keinen Konflikt hier, das können Sie mit eigenen Augen sehen. Die Lage ist ruhig, absolut ruhig. Es gibt keinen Unterschied zwischen der Situation hier und der in Nordmarokko. Wir erleben eine enorme Entwicklung, in allen Bereichen, sozial und wirtschaftlich. Wir bewirtschaften unser Land, wir kümmern uns um unsere täglichen Angelegenheiten. Wir haben solide und demokratische Institutionen."
Stolz erzählt der Wali, was in El Aaiún, der heimlichen Hauptstadt der Sahrauis, derzeit gebaut wird: Ein Theater mit 1.800 Plätzen, eine riesige Bibliothek und vier Sportstadien, zwei davon mit echtem Rasen, trotz des heißen Klimas.
Auch der Bürgermeister von El Aaiún, Hamdi Ould Errachid, hat große Ziele. Sein Lieblingsprojekt ist ein Boulevard, der von sieben großen und 120 kleinen Wasserfontänen gesäumt werden soll. Was er nicht sagt: Den Auftrag wird wohl sein Bruder erhalten. Ein einflussreicher Geschäftsmann, der schon viele Großprojekte seines Bruders in politischer Verantwortung umgesetzt hat. Korruption ist in Marokko an der Tagesordnung. Die größten Firmen im Land gehören wenigen einflussreichen Familien, die seit Jahrzehnten mit dem Machtapparat des Königs verbandelt sind. Sahrauische Politiker führen diese Praxis nun auf lokaler Ebene fort.
Nicht alle Einwohner haben profitiert
Das Zentrum von El Aaiún. Die Marokkaner haben die Stadt erweitert, Krankenhäuser gebaut, Schulen, Fabriken. Alles wirkt gepflegt und sauber, die meisten Häuser sind rosarot gestrichen. Im Souk, dem Markt, drängen sich die Menschen, kaufen ein oder essen Grillspieße oder Schnecken bei einem der Straßenhändler. Aber nicht alle Einwohner haben von den Investitionen der Marokkaner profitiert.
Das Stadtviertel Ma'atala liegt nur zehn Minuten vom Zentrum entfernt. Hier wohnen vor allem Sahrauis. Die Häuser sind klein, Bürgersteige gibt es nicht.
Ma'atala ist bekannt für seinen politischen Widerstand. Am Eingang des Viertels parken zwei Landrover der marokkanischen Polizei. An einer Wand ist mit Kreide die Flagge der Widerstandsbewegung Frente Polisario aufgemalt.
Ein paar Jugendliche sitzen im Schatten eines Baumes und trinken Tee. Einer von ihnen heißt Hamid. Er trägt einen schwarzen Jogginganzug und eine Kappe, die er tief in das runde Gesicht gezogen hat.
"Es gibt keine Arbeit hier und nichts. Die Marokkaner kommen in unser Land und nur sie finden Arbeit. Wir sind sehr verloren hier. Uns bleibt nur den Kampf gegen die Marokkaner. Wir hoffen, dass sie bald von unserem Boden verschwinden, im Frieden oder durch Krieg."
Alle fünf jungen Männer – zwischen 19 und 22 Jahren alt – sind arbeitslos. Sie hätten sich schon überall beworben, sagen sie, ohne Erfolg. Jeden Tag, erzählt Hamid, sitzen sie hier und warten.
Hamid: "Es gibt keine friedliche Lösung. Wir warten seit 40 Jahren. Jedes Jahr sagt man uns, dass die Vereinten Nationen und die Europäische Union kommen werden, um die Marokkaner rauszuwerfen. Aber das ist alles Lüge. Jedes Jahr bleiben sie doch. Wir ertragen es nicht mehr. Wir wollen den Krieg, nichts anderes."
Hamid und seine Freunde überbieten sich darin, ihre Unerschrockenheit zu versichern. Über Heldentaten zu fantasieren, lässt ihr Dasein sinnvoll erscheinen. Auch wenn sie nur auf Plastikstühlen sitzen und warten.
Doch immer mehr junge Sahrauis üben sich in einem normalen Leben. In der Innenstadt von El Aaiún gibt es Eiscafés, Geschäfte mit spanischer Schuhmode und sogar eine kleine Partymeile. Auf dem Boulevard Mekka, der größten Straße, sind die Cafés voll, vor allem wenn Fußballspiele von Barcelona oder Real Madrid im Fernsehen laufen. Abends flanieren die Jugendlichen auf und ab; "Boulevard de l'amour" wird die Straße auch genannt.
Die jungen Sahrauis hier träumen weniger von der Unabhängigkeit als von einem Job. Wie Mohamed, ein gut aussehender junger Mann in Jeans und Wollpulli. Er sitzt in einer der Bars und erzählt, dass er der marokkanischen Regierung viel zu verdanken habe. Auch die Tatsache, dass er hier sitzen und ein Bier bestellen kann. Denn die Regierung hat ihm mit einem Weiterbildungsprogramm einen Job verschafft.
"Die Marokkaner haben Kompetenzen: wirtschaftlich, sozial, technisch, sie haben Ingenieure und Ärzte. Sie sind seit langer Zeit ein eigenes Land, sie wissen, wie man organisiert, sie haben Erfahrung. Ein neues Land, das es erst seit 35 oder 40 Jahren gibt, braucht noch Erfahrung."
Mohamed hat einen Bachelor in Agrarwissenschaft und eine Ausbildung zum Techniker gemacht. Danach fand er keine Stelle. Die Arbeitslosigkeit in der Westsahara ist hoch, 17 Prozent haben keinen Job. In Marokko sind es dagegen nur zehn Prozent. Eine Weile hat Mohamed sich mit verschiedenen Jobs durchgeschlagen. Jetzt ist er Fischer.
Es ist keine Schande mehr, als Fischer zu arbeiten
Der Hafen von El Aaiún liegt 25 Kilometer westlich, am Atlantik. Kleine Holzboote dümpeln in einer Bucht. Ein paar Männer tragen Kisten mit ihrem Fang an Land. Die Fischvorkommen vor der Westsahara sind groß; Fischerei ist der wichtigste Wirtschaftszweig.
Mohamed schüttelt Hände, er kennt hier jeden. Vor ein paar Jahren wurde er zum Fischer ausgebildet. Ein Programm, das extra für Sahrauis aufgelegt und bezuschusst wurde, um Jobs in der Fischerei attraktiv zu machen – keine leichte Aufgabe.
Mohamed El Alaoui: "In der sahrauischen Gesellschaft war es früher eine Schande, als Fischer zu arbeiten. Nur drei Stämme haben im Fischfang gearbeitet. Die anderen Stämme haben verächtlich darauf herabgeschaut. Am Anfang hat meine Familie mich behandelt, als wäre ich ein Verlierer. Aber dann haben sie gesehen, dass ich Geld verdiene und finanziell unabhängig werde. Jetzt behandeln sie mich anders. Sie rufen mich an, damit ich ihnen Fisch mitbringe. Jetzt habe ich ein sehr gutes Verhältnis zu meiner Familie."
Mohamed ist zuhause ausgezogen, er hat eine Wohnung gemietet und ein Auto gekauft. Seit kurzem arbeitet er zusätzlich als Fisch-Händler. Nachteile, weil er Sahraui ist, hat er noch nie erlebt, sagt er. Im Gegenteil.
Das Problem, sagt Mohamed, sei ein anderes. Die harte Arbeit auf dem Meer sei mit der traditionellen Lebensweise der Sahrauis schwer vereinbar.
Mohamed El Alaoui: "Unsere Natur ist etwas langsam. Eine Tasse Tee zu kochen und zu trinken dauert ja schon eine Stunde. Die Marokkaner brauchen dafür fünf Minuten. Dann kehren sie zur Arbeit zurück. Aber wir nicht."
Die Marokkaner haben ihren Lebensstil mitgebracht, der schneller und moderner ist als der der Sahrauis. Und sie haben die sahrauische Gesellschaft gespalten: In die, die sich mit der marokkanischen Verwaltung arrangiert haben, und jene, die nach wie vor die Unabhängigkeit fordern. Umfragen, wie die Sahrauis bei einem Referendum entscheiden würden, gibt es nicht. Und auch keine Presse, die unabhängig berichtet. Auf beiden Seiten herrschen Gerüchte, Mythen, Lügen. Jede Seite beschimpft die andere als Verräter.
Viele Sahrauis haben die Politik deshalb satt. Sie haben zwar eine Satellitenschüssel auf dem Dach, um das Fernsehen der Befreiungsbewegung Frente Polisario zu empfangen, das aus Algerien rüberstrahlt. Aber wenn es keiner sieht, schalten sie um zum marokkanischen Sender, auf dem Liebesfilme laufen.
Der sahrauische Geschäftsmann und Menschenrechtler Moulay Lahsen Naji ist vielleicht typisch für diesen neuen Zeitgeist: Er verkauft in El Aaiún in zwei Läden Parfums, die er aus der Türkei importiert. Die meisten Sahrauis, sagt er, wollten vom Konflikt nichts mehr wissen. Sie hätten andere Träume:
"60 Prozent der Menschen verhalten sich still. Sie wollen nichts mit Politik zu tun haben, weil sie der Polisario nicht trauen und auch keiner anderen Seite. Der Wunsch der Sahrauis ist es, ein gutes Leben zu führen, ohne Probleme. Wir wollen nicht enden wie Syrien. Wir wollen nicht die Probleme der Sahel-Zone haben. Wir wollen keinen ethnischen Konflikt. Wir wollen einfach nur gut leben."
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