Steven Spielberg verfilmt West Side Story neu

Großes Kino für die Ohren

06:02 Minuten
Tänzerinnen in bunten Kostümen tanzen auf einer Straße. Im Hintergrund sind Läden zu erkennen.
Fulminante Kamerafahrten, raffinierte Einstellungen: Mit der Neuverfilmung der "West Side Story" hat sich Regisseur Steven Spielberg einen Kindheitstraum erfüllt. © Niko Tavernise
Von Vincent Neumann · 08.12.2021
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Die Verfilmung von Leonard Bernsteins Musical "West Side Story" von 1961 ist mehr als ein Klassiker. Steven Spielberg hat den mit zehn Oscars prämierten Erfolgsfilm jetzt neu in Szene gesetzt. Unser Kritiker war skeptisch. Wurde er eines Besseren belehrt?

Ich gebe zu, ich hatte den Beschwerde-Brief im Kopf eigentlich schon fertig geschrieben: "Sehr geehrter Herr Spielberg, bei allem Respekt – was soll das!? Ein solch ikonisches und zeitloses Meisterwerk, einen der liebsten Filme meiner Kindheit neu aufzulegen – das kann doch nur schiefgehen!" Beispiele dafür gibt es schließlich genug.
Aber ich wurde eines Besseren belehrt!
Vielleicht hätte ich schon hellhörig werden können, als Steven Spielberg zu Beginn der Produktion respektvoll verkündete, man wolle nichts reparieren, was nicht kaputt wäre, aber es gäbe durchaus einen Grund, die Geschichte noch einmal zu erzählen. Anders als 1961 wolle er nämlich die Rollen der Puerto-Ricaner komplett mit Latinas und Latinos besetzen. Ein lobenswerter Ansatz, der für sich genommen aber noch keinen Qualitätszuwachs garantiert.

Rachel Zegler ist ein echter Glücksgriff

Der kam dann durch den Cast: Ansel Elgort als Tony war dabei fast die logische Wahl, konnte er seine schauspielerischen und musikalischen Qualitäten doch schon in jungen Jahren eindrucksvoll unter Beweis stellen; mit Rachel Zegler, zum Zeitpunkt der Dreharbeiten gerade mal 18 Jahre alt, ist Spielberg ein echter Glücksgriff gelungen. Da könnte er sogar einem kommenden Superstar zum Debüt verholfen haben.
Maria steht auf einem Balkon, Tony davor. Seine Arme reichen über das Geländer, das zwischen ihnen ist. Beide gucken sich in die Augen.
Doppelter Glücksgriff: Ansel Elgort als Tony und Rachel Zegler als Maria.© Niko Tavernise
Ausgewählt aus über 30.000 Bewerberinnen verleiht Rachel Zegler ihrer Maria einen natürlichen, jugendlichen Charme, der ihre Vorgängerin Natalie Wood im wahrsten Sinne des Wortes alt aussehen lässt. Der entscheidende Unterschied ist aber ihre Stimme: Denn während Natalie Wood und viele ihrer Kollegen damals bei Gesangspassagen gedoubelt wurden, gibt es in diesem Fall keine Zweitstimme – und keine zwei Meinungen! Das ist ganz großes Kino für die Ohren!

"Die Frauen stehen hinterm Herd, besingen die romantische Liebe - und die Jungs leben hemmungslos und ungebrochen ihre Männlichkeit aus." Unsere Filmkritikerin Anke Leweke hat an Steven Spielbergs "West Side Story" einiges auszusetzen - und dennoch: Die perfekte, aufwendige Inszenierung, der Schwung und die üppigen Bilder haben sie beeindruckt .

Und wenn doch noch jemand am Gespür des Regisseurs zweifeln sollte: Als besonderen Kniff schuf Spielberg in seiner „West Side Story“ eine neue Rolle für die mittlerweile fast 90-jährige Rita Moreno, den mehr oder weniger heimlichen Star der 1961er-Verfilmung. Statt der feurigen Anita spielt die gebürtige Puerto-Ricanerin dieses Mal allerdings die weise Alte, eine Art moralische Instanz und Bindeglied zwischen den verfeindeten Lagern.
Rita Moreno steht an einem Fenster und blickt schräg nach oben.
Die fast 90-jährige Rita Moreno spielte bereits 1961 mit. In der Neuverfilmung stellt sie eine weise alte Frau dar, als Bindeglied zwischen den verfeindeten Lagern.© Niko Tavernise
Ein genialer Schachzug des Altmeisters, der auch sonst feine, aber entscheidende Anpassungen in seinem Film vorgenommen hat, bei Ablauf und Verteilung der Musikstücke, aber auch bei den Figuren selbst: Die beiden Bandenanführer zum Beispiel sind nicht mehr die tragischen, aber relativ eindimensionalen Charaktere, die per Definition in ihren Rollen und ihrem Konflikt gefangen sind. Sie bekommen mehr Tiefe, mehr Hintergrund und immer wieder die Chance, doch noch einen anderen Weg einzuschlagen.

Spektakuläre Tanzchoreografien

Fulminante Kamerafahrten, raffinierte Einstellungen und Schattenspiele, ein eleganter Schnittrhythmus – all das kann und muss man von einem Film dieser Größenordnung erwarten, und man wird nicht enttäuscht! Die wunderbaren Songtexte des kürzlich verstorbenen Stephen Sondheim sind unverändert, die Dialoge überarbeitet: aktueller, bissiger und auch politischer; die kurzen spanischen Passagen bewusst nicht untertitelt.

Die Themen Liebe und Hass sind heute noch aktueller als in den 50er-Jahren, daher habe er sich getraut, die West Side Story neu zu verfilmen, sagt Steven Spielberg. Die Musik begleite ihn, seitdem er ein Kind war. Deshalb sei die Neuverfilmung des Musicals für ihn ein Kindheitstraum, erzählt er in der Sendung Vollbild .

Die Geschichte spielt Ende der 50er, ist aber so zeitlos, dass man sie überall ansiedeln könnte. Der Film selbst lebt von einem gewissen Retro-Charme, den Farben, den Frisuren, dem tollen Ambiente, das – obwohl ähnlich – viel weniger steril und kulissenhaft wirkt als im Original; bei Spielberg scheinen in New York tatsächlich Menschen zu leben! Und auch die spektakulären Tanzchoreografien haben nichts von ihrer Faszination verloren – in diesem Fall ist man als Zuschauer oft sogar mittendrin statt nur dabei.
Tanzszene aus dem Film. Anita und Bernado tanzen auf einer Straße in New York. Um sie herum sind noch andere Tänzer. Im Hintergrund stehen Menschen und schauen zu.
Tanzszene mit Anita und Bernardo: Die spektakulären Choreografien haben nichts von ihrer Faszination verloren.© Photo by Niko Tavernise
Und da auch die Musik von Leonard Bernstein über jeden Zweifel erhaben und die Neueinspielung mit dezenten Überarbeitungen bei David Newman, Gustavo Dudamel und dem New York Philharmonic Orchestra in wirklich guten Händen ist, bleibt mir nur noch eines zu sagen:
Lieber Herr Spielberg, verzeihen Sie, dass ich an Ihnen gezweifelt habe!

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