Wertegemeinschaft oder Freihandelszone?

Von Margarete Limberg |
Ist Europa nur ein riesiger Wirtschaftsraum oder gibt es darüber hinaus auch Verbindendes, gemeinsame Werte gar? Und wie könnte eine europäische Identität aussehen? Das fragten sich Teilnehmer einer Konferenz in Berlin.
Wie unterschiedlich man mit der Frage nach der europäischen Identität umgehen kann, war auf der Konferenz der Konrad-Adenauer-Stiftung gut zu beobachten. Seit die Krise der EU durch das Scheitern der Verfassung offenbar geworden ist, beginnt man die Frage, was die Union im Innersten zusammenhält, mit neuer Intensität zu diskutieren. Für Bundestagspräsident Norbert Lammert, CDU, steht außer Frage, dass die EU einen roten Faden braucht:

"Mein Eindruck ist, dass wir in Deutschland, aber auch in anderen europäischen Ländern zunehmend begreifen, dass die Abarbeitung der berühmten praktischen politischen Probleme gar nicht überzeugend gelingen kann, wenn wir uns des Kontextes nicht vergewissern, in dem wir diese Lösungen überhaupt anstreben. Dass Europa, anders formuliert, nie eine rein geographische Bezeichnung war, sondern dass Europa immer die Vorstellung über eine Form der Zusammenarbeit war, Europa war immer eine Idee."

Das Scheitern der Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden ist für Politiker wie ihn ein Desaster. Der polnische Abgeordnete Pawel Spiewak hingegen findet, die EU solle sich am besten auf die Lösung praktischer Probleme wie der Wirtschaftsreformen konzentrieren. Er sieht keinen Grund, in diesem Zusammenhang von einer Katastrophe zu reden:

"Die vergangenen Monate haben gezeigt, dass die Europäische Union ganz gut ohne das Ding mit der Vision funktioniert. Aber können ihre Führer akzeptieren, dass eine gewisse, ungewohnte Bescheidenheit nicht nur ratsam, sondern sogar wünschenswert sein könnte? Europa ist für mich in erster Linie ein politisches, institutionelles, pragmatisches und kein ideologisches Projekt."

Ernüchterndes hatte auch ein anderer Vertreter der neuen EU-Mitglieder beizusteuern. Die alten Träume von Europa, so berichtet der frühere lettische Minister für Soziale Integration, Nils Muiznieks, seien in seinem Land ausgeträumt, die Euroskepsis groß. Gleichwohl weiß man die praktischen Vorteile zu nutzen:

"Für die Mittelklasse bedeutet die Mitgliedschaft, mit Easy Jet und Ryan Air in die Länder der EU zu fliegen, um zu sehen, wie der Rest Europas aussieht."

Kaum einen Zweifel gibt es daran, dass die europäische Integration schwieriger geworden ist und die günstigen Bedingungen, die die Entwicklung bisher vorangetrieben haben, künftig nicht unbedingt zu erwarten sind. Umso notwendiger sei es, heißt es in einem der Konferenz vorliegenden Konzept, so etwas wie ein europäisches Bewusstsein zu schaffen und dabei nicht allein in die Vergangenheit zu blicken, sondern zu fragen, was Europa heute und in Zukunft bedeutet. Es reiche nicht mehr, sich auf die Parole zu verständigen "Nie wieder Krieg", meint der christdemokratische Europaparlamentarier Elmar Brok und empfiehlt:

" Es geht darum, dass wir identitätsstiftend sein müssen, und zwar auch durch ganz einfache Dinge. Symbole, die wir oftmals nicht als wichtig genug erachten, die aber für unsere Menschen wichtig sind. Die Frage des Euros, der gemeinsamen Flagge, der Hymne, des Mottos, sind, glaube ich, auf Dauer wichtige Fragen. Und ich könnte mir in diesem Zusammenhang auch mal eine Kampagne vorstellen so wie " Du bist Deutschland" - "Du bist Europa"."

Einheit in der Vielfalt - so lautet ein gern gebrauchter Slogan, um auszudrücken, was Europa ausmacht: der Respekt vor diesen religiösen, kulturellen und politischen Unterschieden, die keine Einheitsideologie vertragen. Das bedeutet nicht, dass es nicht besondere Werte gibt, die in Europa ihren Ursprung haben und heute sogar universell gelten: Die Achtung der Menschenrechte, Demokratie, die Gleichheit vor dem Gesetz. Peter Altmaier, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesinnenministerium, CDU, ist sicher: Es gibt ein europäisches Menschenbild.

"Ist dies Imperialismus, ist es Teil einer europäischen Hybris, dass wir anderen Völkern unsere Werte aufdrängen wollen? Ich glaube das nicht. Viele Grundwerte im Bereich des Respekts der Menschenwürde, der Demokratie, der Gleichheit vor dem Gesetz sind erfunden worden in Europa und in den USA. Das ändert nichts daran, dass sie universellen Geltungsanspruch haben."

Mancher, der von europäischer Identität und europäischen Werten hört, sieht schnell die nationale Identität in Gefahr. Davon, so Norbert Lammert, könne keine Rede sein:

"Europa hat ja nie den Ehrgeiz verfolgt, jedenfalls nicht die EU als politische Verfassung, an die Stelle nationaler Identität eine europäische Identität zu setzen. Aber umgekehrt lässt sich eigentlich in keinem der selbstbewussten europäischen Nationalstaaten die dortige nationale Identität ohne den europäischen Kontext denken und vermutlich auch nicht aufrechterhalten."

Die deutsche Diskussion über eine Leitkultur habe den gemeinsamen europäischen Orientierungen nicht ausreichend Rechnung getragen, kritisiert der Bundestagspräsident, der eine solche Debatte gleichwohl für notwendig erachtet. Zwischen europäischer Leitidee und Leitkultur besteht aus seiner Sicht ein enger Zusammenhang:

"Insofern ist die Verständigung über Gemeinsames die Voraussetzung für die Ermöglichung des Unterschieds. Und wir haben auch in Deutschland unsere Erfahrung gemacht, dass der vielleicht treuherzige Versuch, das eigentlich auf sich beruhen zu lassen, eine Gesellschaft eher auseinander treibt als zusammenbringt."

Peter Altmaier ist sicher, dass es eine europäische Identität bereits gibt, und eindrucksvolle Beispiele für eine europäische Öffentlichkeit bieten die letzten Jahre: der grenzüberschreitende Protest gegen den Irak-Krieg und ebenso die heftigen Kontroversen, die die Nominierung des erzkonservativen Italieners Buttiglione zum EU-Kommissar in den Mitgliedstaaten ausgelöst hat.

Die europäische Identität kann man allerdings den Bürgern nicht aufzwingen, sie muss, so formulierte es ein Teilnehmer, von ihnen entdeckt werden. Und je schwieriger die äußeren Bedingungen der europäischen Integration sind, um so notwendiger ist dieser Prozess. Sonst bleibt die EU ein fragiles und gefährdetes Gebäude.