Werte

Sei Du selbst!

Von Eva Hillebrand · 18.08.2014
Glaubwürdigkeit und ein menschliches Gesicht stehen in der Politik offenbar hoch im Kurs. Warum also Authentizität nicht inszenieren? Schließlich kann kluge Politik schwerlich ohne Verstellung auskommen. Und es scheint so, als hätten frühere Politikergenerationen automatisch mehr Glaubwürdigkeit gehabt.
"Ich glaube, man darf beim Thema Authentizität nicht etwas aufsetzen, man darf nicht schauspielern, man denkt ja manchmal so an den Dante, die Politik als Schauspiel."
Patrick Sensburg, Bundestagsabgeordneter des Hochsauerlandkreises.
"Also ich glaube, dass man es als Ehre verstehen muss, für einen bestimmten Zeitraum, eine Region vertreten zu können, und dann soll man einfach so sein, wie man ist, und deswegen ist man ja auch gewählt worden. Und wenn man glaubt, man müsse etwas ganz anderes darstellen, ich glaube, dann wird man sehr bald scheitern."
Die Authentischen sind die Echten, sind die Guten, sie sind sie selbst, sie inszenieren sich nicht. So zumindest die landläufige Meinung.
Kühbacher:
"Herr Kollege Strauß, würden Sie mir zustimmen, dass wir im Moment einem Auszug der bayrischen Kammerspiele beiwohnen?"
Strauß:
"Sie törichter Zwischenrufer. Wenn die Beiträge Ihrer Redner in den letzten Tagen immer die Qualität der in den bayrischen Kammerspielen aufgeführten Stücke hätten, hätte das Parlament erheblich an Wert gewonnen."
Renate Künast:
"Für mich ist Authentizität was anderes, nämlich 'ne Person wird als authentisch wahrgenommen, wenn der Betrachter, die Betrachterin den Eindruck hat, dass da Reden und Tun zueinander passen. Dass da Werte, Ideen, Loyalitäten sind, die im Alltag auch gelebt werden. Das ist authentisch. Das ist mit sich selbst in Übereinstimmung sein. Sozusagen im Denken, Reden, Tun."
Renate Künast von den Grünen offeriert eine stimmige Definition von authentischen Politikern. Fußt Authentizität doch immer auch auf der Frage: Gibt es eine Übereinstimmung zwischen Gegenwärtigem und Vorangegangenem - also auf einem Vergleich.
Bruch im Begriff Authentizität eingeschrieben
Das Konzept des Authentischen stammt aus der Kultur und galt ursprünglich als Ergebnis von Untersuchung und Urteil: Reliquien und Abschriften von Dokumenten wurden von Fachleuten und vertrauenswürdigen Bürgen daraufhin geprüft, ob sie das Original repräsentieren, also mit dem Siegel des Echten versehen werden konnten.
Ab dem 18.Jahrhundert wurde Authentizität auch auf Personen übertragen: Repräsentieren sie überzeugend, und das heißt auch widerspruchsfrei, die Rolle, die sie in der Öffentlichkeit spielen.
Schon immer also war dem Begriff ein Bruch eingeschrieben: das Verhältnis zwischen einem vermeintlichen Original zu seiner Repräsentation - oder, durchaus zu seiner Inszenierung.
Fritz B. Simon:
"Also das heißt, man macht sozusagen der Welt ein Identitätsangebot, die Welt antwortet und nimmt es zur Kenntnis."
Fritz Simon, Professor für Organisationsberatung und Psychoanalytiker.
"Insofern: 'Sei du selbst' ist natürlich irgendwie auch eine Fiktion. Man ist nie selbst ohne all die andern, ohne die Resonanzen durch die andern, ohne die Antwort durch die andern. Insofern ist für einen selber die Authentizität auch immer konstruiert. Die Frage, ist: Ist das strategisch verwendet oder nicht. Bietet man sich den andern als authentisch an, inszeniert man sich als authentisch, oder schert man sich einfach nicht darum. Aber da muss man es schon ziemlich weit gebracht haben, um sich nicht drum scheren zu können."
Willy Brandt hatte diesen Punkt nach einigen Irrungen erreicht. Franz Walter, Politikwissenschaftler aus Göttingen hat sich in seinem Buch zu Charismatikern und Effizienzen auch mit der Biografie Brandts beschäftigt:
Franz Walter (Quelle: Zeitzeugen-TV):
"Heute sagen ja alle, man muss authentisch sein. Wenn man nicht authentisch ist, wenn man dann spielt, dann ist das sowieso 'ne Schwierigkeit. Das konnte man bei Willy Brandt lange seh'n, Willy Brandt hat wirklich über Jahre Rollen gespielt. Man hatte gesagt, Leute wie Kennedy, in den 60ern, das ist modern, das ist jetzt der neue Typus in der westlichen Demokratie, also spielte er Kennedy.
Und das ist, irgendwann hat ihm das kein Mensch mehr abgenommen, er war denkbar unpopulär, bevor er der große Charismatiker wurde, weil er nur Rollen spielte. Erst als er nach seiner zweiten Wahlniederlage '65 es satt war, und auch nicht mehr Kanzlerkandidat sein wollte, bekam er die Stärke, weil er dann niemandem mehr gefallen wollte, und wurde dann Kanzler. Er wurde dann Kanzler, weil er nicht mehr Kandidat war."
Willy Brandt:
"Damit wir uns gut verstehen: Wie man sich mit eigenen Fehlern auseinandersetzt, selbstgefällig oder selbstkritisch, das sagt einiges aus über den Charakter von Politikern und über den Inhalt von Politik. Einige schienen mir zwischenzeitlich die Rolle eines Sündenbocks vom Dienst zugedacht zu haben. Dazu war ich nicht gewählt noch gewillt. (Beifall) Aber gewiss, ich habe meine Fehler gemacht. Ich habe nicht immer alles bedacht, was hätte bedacht werden sollen. Das tut mir leid, und das ist es dann auch."
"Weil er selber verwickelt war"
In der Geschichte verorten viele Bürger die wirklich authentischen Politiker. Und schreiben denen, die vermutlich selbst wenig Gedanken darauf verschwendeten, mehr Authentizität zu, als Politikerinnen und Politikern der Gegenwart. Beruht das nur auf Sentimentalität?
Robert Lorenz:
"Das Verlangen richtet sich ja immer nach dem, was nicht da ist."
Robert Lorenz Politikwissenschaftler am Göttinger Institut für Demokratieforschung über die sogenannten Schicksalspolitiker.
"Ich würde sagen, dass sich ein Wandel vollzogen hat. Und zwar ist das der Verlust des Schicksals, denn wenn man einfach mal auf die Politiker der 50-er, 60-er, 70-er-Jahre achtet, dann fällt ja auf, dass die den Zweiten Weltkrieg miterlebt haben, manche aber auch noch die Weimarer Republik. Und wenn man auf Leute wie Kurt Schumacher in den 50- er-Jahren blickt, die sind ja auch noch Kriegsveteranen im Ersten Weltkrieg gewesen, also die sind im Kaiserreich aufgewachsen, die kannten also ganz viele politische Systeme, unterschiedliche Staatsoberhäupter und hatten immer wieder Brüche auch erlebt, die sie schon sehr stark charakterlich auch geprägt haben.
Ähnlich ist das bei Richard von Weizsäcker, der 1985 die berühmte Rede hielt, in der er auch von der Schuld sprach, der man sich bewusst sein müsse, also dass es gar keine Stunde Null gegeben habe. Also das konnte er ja in erster Linie nur so vortragen, wie er es damals getan hat, weil er selber verwickelt war."
Richard von Weizsäcker kämpfte als Oberleutnant und Hauptmann der Reserve im Zweiten Weltkrieg, wurde mehrfach ausgezeichnet, und übernahm während der Nürnberger Prozesse die Hilfsverteidigung seines Vaters, des SS-Brigadeführers und Staatssekretärs Ernst von Weizsäcker. Weizsäckers Rede vom 8. Mai 1985 trug den Titel: "Zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft".
Richard von Weizsäcker:
"Wir Deutschen begehen den Tag unter uns, und das ist notwendig. Wir müssen die Maßstäbe dafür allein finden. Schonung unserer Gefühle durch uns oder durch andere hilft nicht weiter. Wir brauchen und wir haben die Kraft, der Wahrheit, so gut wir es können, ins Auge zu sehen, ohne Beschönigung und ohne Einseitigkeit.
Der 8. Mai ist für uns vor allem ein Tag der Erinnerung an das, was Menschen erleiden mussten. Er ist zugleich ein Tag des Nachdenkens über den Gang unserer Geschichte. Je ehrlicher wir ihn begehen, desto freier sind wir, uns seinen Folgen verantwortlich zu stellen."
Stellvertretend für die Deutschen hat er sich zur Verantwortung für die Vergangenheit bekannt.
Richard von Weizsäcker:
"Schauen wir am heutigen 8. Mai, so gut wir es können, der Wahrheit ins Auge."
Robert Lorenz:
"Und Leute wie Weizsäcker, wie Kohl, oder auch wie Helmut Schmidt, der Frontoffizier war, die hatten diese Erlebnisse ja auch geteilt. Und Kurt Schumacher, der war ja auch so eine Art personifiziertes schlechtes Gewissen der Bundesrepublik in den 50-er-Jahren, dem sah man das Leid ja auch physisch an. Der hatte ein amputiertes Bein, einen amputierten Arm, war im Ersten Weltkrieg gewesen, musste im Konzentrationslager Torturen erleben und war eine Art Märtyrer. Und der wusste sozusagen auch wovon der sprach, bei dem konnten das niemals Floskeln sein. Und ich denke, das war schon eine einzigartige Quelle von Glaubwürdigkeit, die natürlich schwierig ist, heute überhaupt zu konstruieren."
Eine Quelle, die Umständen entsprang, die sich niemand zurückwünscht. Nach dem Zweiten Weltkrieg geborene Politiker wurden hingegen immer weniger durch ein gemeinsames Schicksal zwingend geprägt.
Betrunken die Treppe hinuntergepurzelt
Robert Lorenz:
"Das Verlangen richtet sich immer nach dem, was nicht da ist, und man verlangt nach Emotionen. "
So wandert der Blick wieder in den Rückspiegel. Dort erscheinen authentische Politiker als das eckige kantige und meist auch männliche politische Urgestein, ein Bild, das inzwischen zum Klischee geronnen ist.
Robert Lorenz:
"Herbert Wehner, der große Stratege der Sozialdemokratie aus den 50-er, 60-er-Jahren, der hat auch mal jemanden aus dem Parlament geprügelt, und hat das dann eben gerechtfertigt als eine Maßnahme, die er für notwendig gehalten hat, weil ihm die politischen Ansichten nicht gefielen. Damals ist das, glaube ich, gar nicht so medial breitgetreten worden. Aber heute ließe sich sowas ja gar nicht verbergen."
Herbert Wehner:
"Bei dem ist alles Taktik, sagen die Leute oder schreiben die Leute. Wenn ich auf der Bahre liege, sagen sie, es ist auch nur Taktik, der hat sich vor allem den richtigen Moment ausgesucht. Sarkastisch darf man ja wohl gelegentlich sein."
Renate Künast:
"Ja, da wird sogar jemand wie Wehner im Nachhinein noch für 'nen tollen Hecht gehalten. Der ist doch nicht kompetenter, weil er wie 'n Panzer durch die Gegend gedüst ist."
Für Renate Künast ist Herbert Wehner Ausdruck von heteromännlich praktizierten Machtweisen aus einem früheren Jahrhundert
Renate Künast:
"Also wie kann man eigentlich nur in drei Gottes Namen auf die Idee kommen, der sei kompetenter, als vielleicht 'ne Frau, die höflich Guten Tag sacht, sich hinsetzt und sacht: Lassen sie uns jetzt das Ding mal anpacken. Das ist genauso bei Reden von Frauen. Manchmal glaub' ich, dass in solchen Dingen, bei der Art der Darstellung, bei hart oder nicht hart, bei der Art der Kleidung, bei der Frage der Beurteilung von Authentizität vielleicht die Betrachter auch mal überlegen müssen, was die da wahrnehmen."
Einen Politikertypus aus einer anderen Zeit, der seine Rolle seinem Charakter gemäß inszenierte, in Szene setzte. Das Image wurde damals noch nicht so aufwändig gepflegt. Ein Franz Josef Strauß konnte betrunken die Treppe hinunterpurzeln und sein Stern ging deshalb nicht unter. Im Gegenteil, eher galt er deshalb als "einer von uns".
Ostbiografie als Echo auf die westdeutschen Schicksalspolitiker?
Zurück zu der Frage, nach welchen Kriterien heute Authentizität zugeschrieben wird. Die Vergangenheit, das gemeinsame Schicksal sind schließlich keine ewigen Ressourcen.
An ihre Stelle treten Individualität und Selbstverwirklichung. Die Biografie und der persönliche Lebensstil von Politikern werden zu Bausteinen, aus denen ein Rollenkonzept konstruiert wird. Es sollte auf lange Sicht mit Leben gefüllt, getragen werden als Markenzeichen. Einzigartig, nicht austauschbar, authentisch. Versteht sich von selbst, dass die Grenzen zwischen der öffentlichen Figur und dem Privatmenschen verschwinden.
Erstes Beispiel: Gerhard Schröder. Erst ziemlich spät hat er seine Kindheit in größter Armut und mit alleinerziehender Mutter öffentlich gemacht. Schröder besucht das Grab seines Vaters, gefallen 1944, im Geburtsjahr des Sohnes. Die Medien berichten. Auch die Entdeckung der Cousinen in Thüringen wurde der Öffentlichkeit nicht vorenthalten.
Einer von uns, einer für alle.
Selbst die Zigarre, eigentlich gedacht als Verweis auf Fidel Castro wurde in Kombination mit dem Brioni-Anzug eher ein Symbol für den Genossen der Bosse.
Zweites Beispiel: Karl Theodor zu Guttenberg. Adelssprössling, schon immer in den oberen Etagen der Gesellschaft verkehrend. Seine bundespolitische Laufbahn als Wirtschafts-und Verteidigungsminister wurde - nicht nur seitens der Boulevardpresse - einer Hofberichterstattung gleich verfolgt. Adel verpflichtet - nicht unbedingt zur Wahrheit aber zu rollenkonsistentem Verhalten, zu Authentizität.
Karl Theodor zu Guttenberg:
"Also es kann sein, dass ich völlig uncharismatisch bin, dass müssen natürlich andere für sich beurteilen und in meiner Beurteilung dann auch anlegen. Aber ich versuche authentisch zu bleiben, das ist das entscheidende und mich nicht nur den Fliehkräften derer zu unterwerden, die versuchen, mich irgendwo einzunorden. Das ist mein Rezept. Ob's gelingt, das ist 'ne andere Frage."
Ein blaublütiger politischer Abenteurer. Der sich Authentizität selbst zuschrieb. Nur unwillig ließen der Boulevard und seine Anhänger ihn ziehen. Eine "unauthentisch" verfasste Dissertation hätten sie ihm allemal durchgehen lassen.
Drittes Beispiel: Martin Dulig, SPD-Spitzenkandidat für die Landtagswahlen Ende August in Sachsen. Seiner Partei fehlt es dort an Popularität und Alleinstellungsmerkmalen, weshalb Dulig in erster Linie für sich selbst wirbt. Zwei Millionen Sachsen fanden in ihren Briefkästen das 16-seitige PR-Hochglanzmagazin des SPD-Kandidaten. Zentrale Wahlargumente: Der Küchentisch und seine sechs Kinder. Das erste kam zur Welt, als er 16 war und die Mauer fiel.
Ist eine Ostbiografie heute ein spätes Echo auf die westdeutschen Schicksalspolitiker? Gemeinsam erlittene Geschichte, die bis heute verbindet.
Robert Lorenz:
"Ich glaube schon, dass in den ostdeutschen Bundesländern die Menschen lieber regiert werden möchten von Politikern, die auch aus dieser Region kommen. Weil sie ja nicht zu Unrecht den Verdacht haben, dass die sich sonst gar nicht mit der Mentalität auch auskennen. Ne? Die ham' kein geteiltes Schicksal sonst und man empfindet das ja auch als irgendwie aufgezwungenes Personal dann aus dem Westen.
Dann gibt es da aber auch Politiker wie Bodo Ramelow in Thüringen, der hat es als Wessi auch geschafft dann im Osten trotzdem erfolgreich zu sein, weil er sich mit der politischen Kultur dort vertraut gemacht hat, weil er dort seit vielen Jahren auch seinen Lebensmittelpunkt hat, sich eingelebt hat, und insofern ist das tatsächlich vielleicht ein Punkt, wo man sagen kann, dass da das Schicksal einer Ostbiografie durchaus schon noch relevant ist."
Martin Dulig fährt gleichwohl eine riskante Wahlkampfstrategie, wenn er Herkunft und Familie in den Mittelpunkt stellt. Auf Dauer sollte man sich auf Familie als Quelle ausschließlich guter Nachrichten nicht verlassen. Und noch weniger auf das wohlmeinende Interesse der schnell gelangweilten Medien.
Mediale Inszenierung von Meinungsvielfalt
Patrick Sensburg, CDU-Bundestagsabgeordneter für den Hochsauerlandkreis kann sich da ganz entspannt zurücklehnen in dem Wissen, dass er Politik macht für ein Gebiet, in dem seiner Partei traditionell die Mehrheit der Stimmen zufällt. Wozu also personalisieren?
Patrick Sensburg:
"Die Politiker haben einen Ansatz. Also es sind Interessen, die vertreten werden wollen, und keiner geht in eine Sendung und macht Klick und ist jetzt jemand anders und stellt jetzt jemand anderes dar."
Etwas subtiler ist diese Angelegenheit denn doch. In eine öffentliche Rolle zu schlüpfen bedeutet Selbstinszenierung und zwar ausnahmslos.
Patrick Sensburg:
"Natürlich bewegt man sich anders, wenn eine Kamera im Raum ist, man redet vielleicht auch etwas deutlicher, wenn ein Mikrofon vor einem ist. Ja, also ich setz mich grade hin und probiers regelmäßig, in die Kamera zu gucken, aber entscheidender ist mir, dass ich das sagen kann, was ich gerne möchte, was mir wichtig ist. Ich glaube, das kommt durch die Inhalte schon rüber. Aber man darf sich nicht zu viel Gedanken machen, dass Authentisches aufgesetzt sein soll. Weil, dann muss sich jeder fragen: Was ist denn für ihn authentisch?"
Wäre das nicht eine interessante Frage?
Die Medien beobachten die Politiker, und diese beobachten nach welchen Gesetzen und Logiken das Mediensystem funktioniert, um von ihm zu lernen: wie sie sich darstellen müssen, um auf der Medienbühne präsent zu sein.
Patrick Sensburg:
"Und dann wollen Medien, Journalisten ja auch zu Recht die Vielfalt der verschiedenen Meinungen darstellen. Also nicht einen politischen Vertreter, einen Politiker vielleicht fünf oder zehn Minuten interviewen, sondern sie sagen: Wir müssen jetzt die verschiedenen Meinungen in den kurzen Sendeplatz hineinbekommen. Und dann hat man für seine Aussage in der Regel nur wenige Sekunden, das trägt aber trotzdem zur Meinungsvielfalt bei."
Zur medialen Inszenierung von Meinungsvielfalt.
Robert Lorenz:
"Nur, ich glaube, Politiker und Massenmedien selbst müssen eben sehr stark aufpassen, dass dieser Inszenierungsaspekt nicht Überhand gewinnt. Also wenn es dann nur noch darum geht, professionell zu wirken, dann ist ja irgendwann nur noch die Oberfläche da, unter der es aber keine Substanz gibt, Und dann kommen auch diese Floskeln, diese Plattitüden, und die werden vielleicht auch gar nicht mehr hinterfragt."
Fritz B. Simon:
"Da hat jeder sozusagen seine Alltagserfahrung, jeder der wahlberechtigt ist, hat mindestens 18 Jahre Erfahrung damit gemacht, ob er jemand für glaubwürdig hält oder nicht, vertraut oder nicht. Der ist authentisch, das heißt, der belügt mich nicht, der betrügt mich nicht, das kann ich im Moment aber relativ schlecht abschätzen. Wenn jemand über längere Zeit immer wieder seine Zuverlässigkeit, seine Glaubhaftigkeit bestätigt, dann glaub ich ihm auch weiter, vertrau ich ihm. Aber das ist etwas, was man nicht beschließen kann, sondern was wächst über die Zeit, und deswegen ist das ein ganz zentraler Faktor."
Künast leitet die "Agrarwende" ein
Das widerspiegelt sich nicht in den Medien, die einem anderen Zeitverständnis folgen. Politische Arbeit an sich ist extrem komplex, ganz im Gegensatz zu ihrer medialen Repräsentation, die vor allem Aufmerksamkeit wecken will. Renate Künast hat sich dem Spagat gestellt.
Renate Künast:
"Ja und natürlich geh ich auch zur Kuh und füttere 'ne Kuh. Und dann gucken die Leute: Ja stimmt das eigentlich alles?"
2001, in Deutschland taucht der erste BSE-Fall auf. Gesundheitsministerin Andrea Fischer und Landwirtschaftsminister Karl Heinz Funke treten zurück. Renate Künast übernimmt dessen Amt und gibt dem Ministerium einen neuen Zuschnitt. Verbraucher- und Tierschutz werden in das Ressort integriert.
Renate Künast:
"Die Leute haben Angst, was passiert da? Es wird ein Licht geworfen auf Tierhaltung. Und dann, als ich dann kam, dann, kann man sagen, hat mir auch noch geholfen, dass die alten Bauernverbandsstrukturen sagten: Was, eine Stadtgöre? Und ich sagte: Ja, weil hier in den Städten leben die Kunden. Wir essen das, wir sollen das kaufen, unser Geld dafür ausgeben. Und, ich hätt ja auch nicht so viel Fachchinesisch von mir geben können, am Anfang, als ich dann ein Prinzip gesagt hab: Klasse statt Masse, und in unsere Kühe kommt nur Gras, Wasser und Getreide. Als Sinnbild dafür, dass wir nicht 'ne Ramsch-Reste-Mischfutterindustrie haben wollen, in der wir am Ende noch Rückstände von Antibabypillen im Tierfutter finden, und was weiß ich. Das war dann auch der richtige Ansatz zur richtigen Zeit. Es gab einen Bedarf."
Als Ministerin leitet Künast die "Agrarwende" ein. Sie holt den Ökolandbau aus der Nische und stärkt den Tierschutz.
Renate Künast:
"Und auf der anderen Seite ist es eben auch dann, dass ich handwerklich gezeigt habe, dass ich diese Werte und Ziele, die ich benannt hab, auch an denen systematisch gearbeitet hab. Dass ich dran bleibe. Dass ich mich beschimpfen lasse, und die Leute sozusagen immer wieder gemerkt haben, sie kommt immer mit den gleichen Werten und Zielen und immer wieder mit 'nem anderen Werkzeug. Und selbst, wenn was nicht umsetzbar ist, sagt sie: Ich überleg mir was Neues. Das war dann der Punkt. Und dieses: unerschrocken zu sein. Und nächste Woche kommen wer dann wieder an 'ner anderen Stelle."
Bei ihrer Kandidatur zur Berliner Bürgermeisterin 2011 präsentiert sich Renate Künast erneut als grüne Parteipolitikerin.
Renate Künast:
"Naja, ich glaube, dass in Berlin, ich hätte in Berlin einfach rumreisen sollen und sagen: Hier bin ich, das kann ich, wenn Sie mich mögen, ich höre zu und wir finden Lösungen. Statt selber schon große fertige Programme der Grünen mit zu transportieren. Aber trotzdem hatten die Leute nicht den Eindruck, dass sie jetzt wirklich wissen wollen, was man jetzt alles anpacken und verändern muss. Eigentlich war es eher so, wie: Wir würden gerne einer Person trauen, und dann können wir es auch delegieren."
Unterschiede zwischen den Parteien schwinden
Hätte Renate Künast, ähnlich wie der amtierende Bürgermeister einen auf ihre Person zugeschnittenen Wahlkampf führen sollen? Klaus Wowereit hat den Amtsbonus, man weiß, man meint zu wissen, woran man bei ihm ist. Das genügte den Berlinern offenbar -jedenfalls zum damaligen Zeitpunkt.
Fritz B. Simon:
"Und solche Dinge sind sozusagen eher ein Rückgriff auf alte Mechanismen der Komplexizitätsreduktion. Und die funktionieren. Zumindest als Politiker ist man, glaube ich, gut beraten, wenn man damit kalkuliert. Ich weiß nicht, was man an die Stelle setzen kann. Wenn ich dem Führer vertraue, ist es dasselbe, wie wenn ich ihm blind hinterherlaufe. Natürlich ist das gefährlich, ja? Insofern ist jedes Vertrauen gefährlich. Aber nicht zu vertrauen ist auch gefährlich. Weil nicht vertrauen heißt: Ich muss kontrollieren und nicht kontrollieren ist unökonomisch."
Authentisch Politik zu machen heißt in einer Parteiendemokratie eigentlich, einem bestimmten Weltbild zu folgen, dem sozialen, dem christlichen, dem liberalen. Doch Unterschiede zwischen den Parteien schwinden und damit deren ideologische Integrationskraft. Soziale Gegensätze wachsen, und politische Alternativen, die über Kosmetik hinausgehen, werden von wirtschaftlichen Interessen erstickt. Eine Demokratie ist aber nur so gut wie die Alternativen die sie zur Verfügung stellt. Alternativen verweisen auf Zukunft. Wo sie fehlen, macht sich Personenkult breit. Fritz Simon:
"Naja, also ich glaube, Programme sind ja heute nicht mehr wirklich wahlentscheidend. Da sind wir uns glaube ich, einig, was - wie ich finde - ambivalent ist. Einerseits finde ich Programme im Sinne, von: Da bekennt jemand, worum es ihm eigentlich geht auf der Sachebene. Das legt er fest, dann kann ich ihn nachher auch daran messen, ob er dieses Programm realisiert, oder so."
Aber diese Programme sind natürlich auch insofern problematisch, als dass sie sehr abstrakt sind, und letztlich entscheidet sich, ob sie sinnvoll sind oder nicht, immer erst in der Konkretisierung. Woran soll ich mich orientieren, an den Worten, an den schönen, an den Sonntagsreden? Das ist, glaube ich, nicht verwunderlich, wenn man kritisch gegenüber den Worten oder solchen Versprechungen ist, dass man sich lieber an Personen orientiert."
Patrick Sensburg:
"Ich glaube, dass die Politik auch nicht immer gleicher, nicht immer ähnlicher wird. Ich glaub', dass sich die Parteien aber in vielen Punkten auch unterscheiden. Das ist zum Beispiel auch eine Aufgabe der Medien, diese Unterschiede herauszuarbeiten."
Vorausgesetzt, diese Unterschiede existieren.
Patrick Sensburg:
"Wir haben bei vielen Themen, sowohl im Bundestagswahlkampf als auch im Europawahlkampf ganz spannende Diskussionen erlebt, wo die politischen Unterschiede deutlich zutage getreten sind."
Wahlkampf. Kampf der Giganten.
Mai 2014: TV-Duell um die EU-Kommissionspräsidentschaft: Martin Schulze contra Jean-Claude Juncker.
Wählerbeschwörung, Geisterbeschwörung.
Am Ende bleiben die Gegner eben doch die ziemlich besten Freunde, die sie seit vielen Jahren auch im Privatleben sind. Ob es um die Verkleinerung der Kommission oder den Kampf gegen die überbordende Bürokratie geht, die Einigkeit scheint größer als die Unterschiede. Ein TV-Duell ohne Erkenntnisgewinn.
Machtausübung entzieht sich Fragen nach Authentizität
Bundeswahlkampf 2013. Mangels politischer Konzepte bietet die CDU die Merkelraute als Wahlkampfchiffre.
Ein absolut authentisches Markenzeichen. Strahlt Ruhe aus. Machtgewinn und Machterhaltung bleiben dahinter verborgen.
Machtausübung, das eigentliche Zentrum von Politik, entzieht sich ohnehin Fragen nach Authentizität und ist dafür auch nicht zuständig. Politik kann schwerlich ohne Strategie und Taktik, ohne Verstellung und Fintenreichtum auskommen. Robert Lorenz:
"Wenn Strategien und Taktiken offenliegen und wenn sie sich dann immer in voller Transparenz zu erkennen geben, wenn es um die eigentlichen Qualifikationen auch von politischer Führung geht, nämlich Entscheidungen durchzusetzen, Mehrheiten zu mobilisieren - keine Ahnung -, vielleicht auch mal einen Parteitag zu dreh'n, dann benötigt man Fähigkeiten, die nicht in der Öffentlichkeit stehen sollten und die wir, glaube ich, auch nicht alle als positive Charaktereigenschaften bezeichnen würden, die aber in gewissem Ausmaß, denke ich, trotzdem auch immer notwendig waren und sind in der Politik."
9. Mai1999: Sonderparteitag von Bündnis '90 / Die Grünen zum Kosovoeinsatz findet unter Polizeischutz statt. Die Partei, die aus der Friedensbewegung entstanden war, droht es zu zerreißen. Joschka Fischer, erst seit fünf Monaten im Amt des Außenministers. befürwortet den Einsatz deutscher Soldaten und wird dafür als Kriegstreiber beschimpft. Ein Farbbeutel trifft ihn am Ohr. Trommelfellriss. Nach ärztlicher Behandlung wendet er sich ein zweites Mal an seine Parteimitglieder:
"Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Gegner, geliebte Gegner, es ist Krieg, und ich hätte mir nie träumen lassen, dass Rot-Grün mit in den Krieg geht. Aber dieser geht nicht erst seit 51 Tagen, sondern seit 1992. Liebe Freundinnen und Freunde, und um was ich euch als Außenminister bitte, ist, dass ihr mir helft, dass ihr mir keine Knüppel zwischen die Beine werft, dass ich nicht geschwächt, sondern gestärkt aus diesem Parteitag herausgehe, um unsere Politik fortsetzen zu können. Ich danke Euch."
Schlussendlich stellt sich die Partei, wenn auch knapp, hinter Fischer. Die Frage, welche Rolle dabei der Machterhalt spielte, bleibt unbeantwortet. Fischer, ein Meister der Selbstinszenierung galt über Jahre als Deutschlands beliebtester Politiker.
"Gucken Sie hinter die erste Fassade"
Wandelbarkeit, sich selbst in verschiedenen Rollen wiederfinden. Um Gunst und Aufmerksamkeit zu gewinnen sind das probate Mittel. Und wie steht es um die Glaubwürdigkeit? Klaus Kocks, Politikberater und Kulturtheoretiker, setzt nicht nur seine Kunden, sondern auch sich selbst professionell ins rechte Licht.
Zitat Klaus Kocks:
"Es geht um fiktionale Glaubwürdigkeit. Wir können einen Politiker nicht als Person beurteilen, weil wir ihn nicht wirklich kennen, sondern nur in seiner Rolle. Die kann er authentischer oder weniger authentisch spielen. Authentizität ist eine bestimmte Art der Inszenierung, auf die wir mit der Zubilligung von Vertrauen reagieren. Authentizität ist aber nicht Wahrheit: Leute, die im Stadttheater sitzen und den Hamlet sehen, glauben doch nicht, sie wären jetzt wirklich in Dänemark und es wären Geister da."
Diese Ansicht scheint auf den ersten Blick dem abschließenden Gedanken von Renate Künast zu widersprechen. Aber lassen Sie sich nicht täuschen.
Renate Künast:
"Gucken sie hinter diese erste Fassade dessen, was sie wahrnehmen. Fragen Sie sich, ob eine Person wirklich systematisch an 'ner Geschichte dran ist, fragen Sie: Was haben Sie da gemacht? Welche Idee haben sie? Man darf sich nicht durch den äußeren Schein trügen lassen."
Literatur:
Peter Szyszka (HRSG.)
Alles nur Theater
Authentizität und Inszenierung in der Organisationskultur
Herbert von Halem Verlag 2012
Robert Lorenz/ Matthias Micus
Von Beruf Politiker
Bestandsaufnahme eines ungeliebten Stands
Herder Verlag 2013
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