Werden wir immer dümmer?

Von Bernd Wagner · 13.10.2008
Die Frage nach dem Grad unserer Verdummung ist insofern schwierig zu beantworten als dies Verstandeskräfte voraussetzt, von denen wir nicht sicher sein können, sie noch zu besitzen. Beeilen wir uns also und untersuchen einige diese Problematik erhellende Beispiele, bevor es zu spät ist.
Zum Glück werden sie uns immer wieder in auch für schlichtere Gemüter leicht fasslicher Form geliefert, in letzter Zeit vor allem durch die Bankenwelt. Eines dieser Geldinstitute, die "Kreditanstalt für Wiederaufbau", kurz KfW, hat es dankenswerterweise geschafft, ihren Kollegen namens "Lehman Brothers" noch am Tag ihrer Pleite, oder einen zuvor, 300 Millionen Euro oder auch 500 zu überweisen und uns damit zu dem Schluss kommen zu lassen: Das ist der bisher für unerreichbar gehaltene Gipfel der Blödheit.

Betrachten wir etwas genauer, welche Anstrengungen notwendig waren, ihn zu erklimmen. Ohne uns auf die für Uneingeweihte unergründlichen Details einzulassen, liegt die Vermutung nahe, sie, diese Anstrengungen, sind die einer Intelligenz gewesen, die durch ihre äußerste Zuspitzung zum tragischen Umschlag in die Dummheit verurteilt war. Wie sonst ist zu erklären, dass die geballte Geisteskraft von 34 allesamt in höchsten Regierungs- und Parteiämtern gestählten Verwaltungsratmitgliedern sowie die einer Unternehmensführung, die durch den von ihr angerichteten Schaden bei der Verschleuderung der Tochterbank IKB hätte klug geworden sein müssen, nicht ausreichte, um ein solches Debakel zu verhindern?

Diese Intelligenz ist eine so hoch spezialisierte, dass sie für die Niederungen des Alltagsgeschäftes Instrumente wie den "automatisierten Zahlungsverkehr" geschaffen hat, deren Opfer sie geworden zu sein scheint. Womit wir bei der wiederholt geäußerten These wären, für eine bestimmte Art der Verdummung sei unsere Computerisierung verantwortlich. Sie verdient es, etwas genauer ins Auge gefasst zu werden.

Dass die gewohnheitsmäßige Benutzung des PC Gefahren für die eigene Denkkraft in sich birgt, wird niemand bestreiten. Sie beginnen bei seiner Eigenart, uns Fragen zu stellen, die nur mit Ja oder Nein beantwortet werden können und enden noch lange nicht damit, dass Verkäuferinnen das Kopfrechnen verlernen, weil ihnen die Kasse das Wechselgeld anzeigt. Das Problem liegt tiefer. Es liegt im Wesen der Art von Intelligenz begründet, nämlich der mathematisch-naturwissenschaftlichen, die dieses einmalige Zeugnis menschlicher Leistungskraft geschaffen hat. Ihre Sprache ist die der Zahlen, und diese wiederum, weil sie für ihn bares Geld bedeuten, sind am wichtigsten für den Kaufmann, speziell den Finanzkaufmann.

Er ist es, der sich zum alleinigen Herrn unserer Epoche aufgeschwungen hat und deren Denken bestimmt. Wir alle sind zu Händlern geworden, deren Ziel das Schreiben möglichst vielstelliger schwarzer Zahlen ist. Bekanntermaßen aber macht Gier blind und dürfte, zusammen mit der Verkümmerung aller anderen, nicht von Zahlen bestimmten Formen der Intelligenz, ein wesentlicher Grund unserer geistigen Regression sein.

Ein weiterer betrifft nicht den Händler in uns, sondern den Kunden. Wie anders als durch eine möglichst lückenlose Verdummung der Kundschaft kann man erreichen, dass sie so viel wie möglich der unnützen Produkte erwirbt, deren Verkauf unseren Wirtschaftskreislauf am Leben erhält?

Dass dies Folgen bis in die Spitzen der technischen Intelligenz hat, die doch als Erfinder des Computers diese Mechanismen am ehesten beherrschen sollte, zeigt uns ein zweites Beispiel. Am Ufer des Tiefen Sees in Potsdam wurde ein Stadttheater errichtet, das allgemein als architektonisches Kleinod gilt. Doch leider wurde dabei nicht genügend berücksichtigt, dass ein Theater nicht nur der Betrachtung von außen, sondern auch dem Kunstgenuss in seinem Inneren dient, wozu es für das Publikum von Nutzen ist, wenn es die auf der Bühne gesprochenen Worte versteht.

In Potsdam aber erzeugt die beeindruckende Konstruktion aus Beton, Stahl und Glas einen Nachhall von bis zu anderthalb Sekunden und damit eine selbst den willigsten Zuhörer überfordernde Kakophonie. Nach zwei Jahren babylonischen Stimmengewirrs ist man jetzt daran gegangen, Schalldämpfer in Segelform zu installieren und einen Teil des Innenraums mit Holz zu verkleiden. Ja, richtig – Holz! War es nicht das gute alte Holz und weder Beton noch Stahl noch Kunststoff, das sich in den vergangenen Jahrhunderten als das im akustischen Sinne am besten für einen Theatersaal geeignete Material bewährt hat?

Wie konnten das die Potsdamer Architekten vergessen? Es scheint so, als ob die uns bedrohende Dummheit vor allem darin besteht, dass wir auf dem Weg zur Überklugheit einige elementare Dinge verlernt haben. Und leider gibt es niemanden außer uns, der sich an sie erinnern kann.


Bernd Wagner, Schriftsteller, 1948 im sächsischen Wurzen geboren, war Lehrer in der DDR und bekam durch seine schriftstellerische Arbeit Kontakt zur Literaturszene in Ost-Berlin. 1976 erschien sein erster Band mit Erzählungen, wenig später schied er aus dem Lehrerberuf. Von Wagner, der sich dem Protest gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns anschloss, erschienen neben einem Gedichtband mehrere Prosabände und Kinderbücher.

Als die Veröffentlichung kritischer Texte in der DDR immer schwieriger wurde, gründete Wagner gemeinsam mit anderen die Zeitschrift "Mikado". Wegen zunehmender Repression der Staatsorgane siedelte er 1985 nach West-Berlin über. Zu seinen wichtigsten Büchern zählen "Die Wut im Koffer. Kalamazonische Reden 1-11" (1993) sowie die Romane "Paradies" (1997) und "Club Oblomow" (1999). Zuletzt erschien "Wie ich nach Chihuahua kam".