Werden die Konservativen noch gebraucht?

Von Alexander Gauland · 23.02.2007
Nun geht wieder alles bunt durcheinander. Für die Gegner, Sozialdemokraten, Linke, ist Friedrich Merz ein Neoliberaler, für seine Freunde und wohl auch nach eigenem Selbstverständnis ein Wertkonservativer, dem die Freiheit der höchste Wert ist, getreu dem alten liberalen Credo: Die Freiheit ist nicht alles, aber ohne Freiheit ist alles nichts.
Und in der Tat verkörpert Friedrich Merz - nimmt man seine öffentlichen Äußerungen zum Beispiel - Elemente aus beiden Denktraditionen; das Wirtschaftsliberale bedarf keiner weiteren Zuordnung, sein Beharren auf einer Leitkultur entstammt dagegen einer konservativen Wurzel.

Alles konservative Denken beginnt - jedenfalls bewusst - bei Edmund Burke. Sein Einspruch gegen die französische Revolution speiste sich zwar auch aus einem romantischen ästhetischen Impuls, war aber zuerst einmal ein Appell an den gesunden Menschenverstand. Vernünftiges Handeln, so hat es einer seiner Interpreten einmal formuliert, kann nicht in Unkenntnis bisheriger Geschichte und in der dekretierten Abkehr von ihr ins Werk gesetzt werden.

Burke ist kein Führer in die Irrationalität der politischen Romantik, er hat uns nur den vernünftigen Wert moralischer Verpflichtungen eingeschärft, ohne die eine Gesellschaft nicht bestehen und der Mensch als soziales Wesen nicht existieren kann. Daraus haben Konservative zu allen Zeiten ihre Verteidigung der bestehenden Institutionen, des Staates, der Kirche, der Familie und der Ordnung im Allgemeinen abgeleitet und den Grundsatz aufgestellt, dass das Bestehende erst einmal im Recht ist und wer verändern will die Beweislast trägt. Nicht, dass sich Konservative grundsätzlich Reformen widersetzen, aber sie neigen eher dazu, Schwächen zu ertragen als immer von neuem die blaue Blume der Vollkommenheit zu suchen.

Der Konservative ist misstrauisch gegenüber allen Abstraktionen, gegen die Anrufung der Menschheit wider die Schwächen des Menschen, gegen die abstrakte Freiheit, die sich nicht in Institutionen zur Sicherung der Freiheit des Einzelnen verwirklicht, gegen gesellschaftliche Entwürfe vom Reißbrett, die die Traditionen von Jahrhunderten außer Acht lassen, gegen eine Räson des Staates, die den Staatszweck losgelöst von den Menschen definiert, gegen die Vergötzung der Nation sowie gegen alle Spekulationen, die, von einem neuen Menschen träumend, die menschliche Gesellschaft neu erfinden und Verfassungen auf ein leeres Blatt Papier schreiben wollen.

Das bringt Konservative immer wieder in Konflikt mit einem Liberalismus, der in der wirtschaftlichen Freiheit des Individuums und damit im wirtschaftlichen Erfolg den höchsten Wert sieht. So lange beide, die traditionellen Ordnungen wie die wirtschaftliche Freiheit von einer revolutionären Kopfgeburt bedroht waren, spielte dieser Gegensatz kaum eine Rolle. Doch seit dem Sieg des Kapitalismus im Kalten Krieg treten die Unterschiede wieder deutlich zu Tage. Da die privatwirtschaftlich organisierte Freiheit sich von niemandem mehr bedroht fühlt, werden die konservativen Mächte nicht mehr gebraucht. Sie werden zum Hemmnis auf dem Wege zu ungehindertem Konsum und ökonomischem Erfolg. Die modischen Leerbegriffe Modernisierung, Flexibilisierung, Innovation und Deregulierung haben einen gemeinsamen Inhalt: Die Zerstörung von allem, was an Überkommenem die Effizienz des Wirtschaftssubjekts hindert – Glaubensüberzeugungen, ethische Bedenklichkeiten, Tabus und kulturelle Traditionen.

Die ambivalente bis uneingeschränkt positive Haltung der Wirtschaft zu Einwanderung, gen-veränderten Lebensmitteln und der Forschung mit lebenden Zellen illustriert eindrücklich, dass die Wirtschaft keine konservative Kraft ist und die Unterschiede zwischen Liberalen und Konservativen immer noch relevant sind. So falsch war das Lob nicht, das Marx einst im Kommunistischen Manifest der frühen Bourgeoisie der ersten Globalisierung gespendet hat: "Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpfen unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übrig gelassen, als das nackte Interesse, als die gefühllose bare Zahlung. Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt, sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohl erworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt."

Dass darin nicht die ganze gesellschaftliche Wahrheit bestehe, war seit Edmund Burke das Ziel konservativen Widerspruchs gegen den totalen Staat wie gegen eine hemmungslose Freiheit. Beide Widersprüche haben nichts von ihrer Aktualität verloren, auch wenn andere Kräfte mit anderen Mitteln inzwischen zu den gleichen Zielen unterwegs sind.


Dr. Alexander Gauland, geb. 1941 in Chemnitz, lebt als Publizist und Buchautor in Potsdam. Mehrere Jahre lang war er Herausgeber der "Märkischen Allgemeinen Zeitung". Von 1987 bis 1991 war er Staatssekretär und Chef der hessischen Staatskanzlei. Anfang der 70er Jahre hatte Gauland im Presse- und Informationsamt der Bundesregierung gearbeitet. Als Publizist hat er zahlreiche Artikel und Beiträge zu gesellschaftspolitischen Fragen, zur Wertediskussion und des nationalen Selbstverständnisses veröffentlicht. Letzte Buchveröffentlichung: "Anleitung zum Konservativsein".