Wer zahlt die Zeche?

Von Kostas Petropulos |
Jahrzehntelang herrschte hierzulande die ungetrübte Gewissheit, dass alle am wachsenden Wohlstand seit dem Zweiten Weltkrieg teilhaben dürfen. Jeder, so der gemeinsame Glaube, könne durch gute Bildung und eigene Leistung wirtschaftlich und gesellschaftlich aufsteigen. Doch seit die Wachstumsraten der Wirtschaft immer kleiner geworden sind, die Massenerwerbslosigkeit sich schon seit Jahrzehnten hartnäckig hält und sich bis tief in die Mittelschicht hineingefressen hat, sind diese Überzeugungen schwer erschüttert worden.
Dass unsere Gesellschaft bislang im Kern dennoch stabil geblieben ist, hat sie vor allem dem ausgebauten Sozialstaat zu verdanken. Er sorgte dafür, dass niemand im Falle von Arbeitslosigkeit, von Krankheit oder als Rentner wirtschaftlich ins Bodenlose abstürzte. Hinzu kommt noch unser progressives Steuersystem, bei dem die Reichen mehr zur Finanzierung unseres Gemeinwesens beitragen sollen als Mittel- oder Geringverdiener.

Doch die dank Sozial- und Steuerstaat erzielte gesellschaftliche Stabilität ist in Wirklichkeit nur auf Sand gebaut. Denn anders als gedacht, schaffen diese gesellschaftlichen Steuerungssysteme keinen echten solidarischen Ausgleich zwischen den wirtschaftlich besonders Erfolgreichen und den weniger Erfolgreichen. Das bestätigt der Blick auf die Vermögensverteilung.

Bereits in den 60er-Jahren besaß die winzige Minderheit von 2 Prozent aller Haushalte über 74 Prozent des Produktivvermögens und 35 Prozent des Gesamtvermögens. 30 Jahre später nahezu der identische Befund. Auch bei der Grundstruktur der Einkommensverteilung hat sich über die Jahrzehnte hinweg an der eklatanten Ungleichheit nichts verändert. Im Gegenteil: Seit der weltweiten Liberalisierung in den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts hat sich die Situation noch verschärft: Die Reichen werden immer reicher und die Mittelschicht schrumpft.

Die Politik hat nicht gewagt, diese klaffenden Wohlstandslücken innerhalb der Gesellschaft durch leistungsgerechte Steuern und Sozialabgaben zu korrigieren. Stattdessen haben sich die Regierungen ganz einfach in die Verschuldung geflüchtet. Daher die Schuldenberge, die die Sozialkassen und die Haushalte von Bund, Ländern und Gemeinden in den letzten Jahrzehnten aufgetürmt haben.

Die heutige Weltwirtschaftskrise mit der Explosion der Staatsverschuldung und dem verlorenen Vertrauen der Finanzmärkte in die Stabilität der öffentlichen Haushalte bedeutet jedoch das unwiderrufliche Aus für den politisch bequemen Verschuldungsweg. Ebenso wenig ist die Rettung durch ein kräftiges Wirtschaftswachstum mit sprudelnden Staatseinnahmen zu erwarten.

Unversehens sieht sich die Regierung mit der seit Jahrzehnten ungelösten Verteilungsfrage konfrontiert: Wer soll die Lasten der Staatssanierung tragen? Die breite Masse durch kräftige Einschnitte in den Sozialstaat, die Erhöhung der Sozialbeiträge und der Mehrwertsteuer? Oder die Vermögens- und Einkommenselite, die ihre wirtschaftliche Vormacht erhalten und ausbauen konnte?

Nach dem Zweiten Weltkrieg stand die Regierung beim Wiederaufbau des zerstörten Landes vor einer historisch noch schwierigeren Situation. Millionen Besitzlose und 14 Millionen deutsche Vertriebene mussten sozial integriert werden. Daher beschloss die Politik eine Lastenausgleichsabgabe für Großgrundbesitzer und Bauern, Hausbesitzer und Industrielle – also eine spezielle Steuer für die wirtschaftlich Leistungsfähigsten in der Gesellschaft zur Bewältigung der Notsituation.

Dass heute ein ähnlicher Solidarbeitrag zur Rettung des Gemeinwesens notwendig ist, scheint auch dem Lager jenseits von Rot-Rot-Grün zu dämmern. So will der Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie, Hans-Peter Keitel, eine krisenbedingte Erhöhung des Spitzensteuersatzes nicht grundsätzlich ausschließen. Und der Vorstandsvorsitzende eines börsennotierten Konzerns fragt sogar, warum Einkommen von mehr als zwei Millionen Euro in der Krise nicht mit 80 Prozent besteuert würden.

Kurz: Beim notwendigen Abbau der Staatsverschuldung muss die Politik endlich eine überzeugende Antwort auf die Verteilungsfrage finden. Das erfordert einen Mut, wie er schon lange nicht mehr gefragt war. Die aktuelle Krise bietet jedoch dafür eine historische Chance, die zur Rettung des demokratischen Gemeinwesens nicht ungenutzt verstreichen darf.


Kostas Petropulos, Publizist, 1960 in Dresden geboren, studierte Deutsch und Geschichte in Tübingen. Seit 1987 als freier Journalist vor allem als Autor von wirtschafts- und familienpolitischen Themen hervorgetreten. 1995 Mitbegründer des Heidelberger Büros für Familienfragen und soziale Sicherheit, das er seit Ende 1996 leitet.
Kostas Petropulos
Kostas Petropulos© privat