Wer verzweifelt, hat verloren

Rezensiert von Winfried Sträter |
Der Amerikaner John Noble lebte zu Kriegsende in der Nähe von Dresden, seine Startbedingungen für die Nachkriegszeit schienen glänzend. Doch im Juni 1945 wird er festgenommen - ohne Begründung, ohne Anklage. Es folgen Jahre in mehreren sowjetischen Lagern. Noble berichtet nicht nur, was ihm widerfahren ist, sondern er erzählt, wie man eine solche Hölle überleben kann. Das ist das Spannende an dieser Autobiographie.
Es ist die Geschichte eines jungen Mannes, der im Mai 1945, als der Zweite Weltkrieg zu Ende ist, das Gefühl hat: Das Leben kann jetzt beginnen und der dann so Unglaubliches erlebt, dass man sich beim Lesen immer wieder fragt: Wie kann ein Mensch so etwas überleben?

Seine Familie hat im Zweiten Weltkrieg Glück gehabt und glänzende Startbedingungen für die Nachkriegszeit. Charles Noble ist Inhaber der "Kamera-Werkstätten" in Niedersedlitz bei Dresden. Die Firma hat die Praktiflex entwickelt, eine der ersten Spiegelreflexkameras der Welt.

Mit einigen Schwierigkeiten überstanden die Nobles den Zweiten Weltkrieg. Weil sie amerikanische Staatsbürger waren, konnten sie sich nicht frei bewegen, aber die Produktion lief weiter und die Fabrikanlagen waren bei Kriegsende intakt.

Die Nachfrage nach Kameras war groß, gute Geschäfte waren zu erwarten. Sorgen machten sich Vater Charles und sein Sohn John Noble allerdings, weil Dresden in der sowjetischen Besatzungszone lag. Die Amerikaner beruhigten sie, Deutschland sollte bekanntlich einheitlich regiert werden, deshalb könnten sie zuversichtlich sein.

Dieser Rat erwies sich als fatale Fehleinschätzung. Im Juni 1945 wurden Vater und Sohn Noble festgenommen, ohne Begründung, ohne Anklage, ohne Gerichtsverfahren, ohne Verurteilung. Sie landeten in einem berüchtigten Gefängnis, das die Sowjets in Dresden unterhielten und wurden gleich einer Hungertortur unterzogen, die sie fast das Leben kostete.

Auf die Gefängniszeit folgten Jahre in mehreren sowjetischen Lagern. Charles Noble, der Inhaber der inzwischen von den Sowjets enteigneten Kamerawerkstätten, wird 1952 frei gelassen und kehrt mit seiner Familie als gebrochener Mann in die USA zurück.

Sein Sohn John Noble wird 1950 zu 15 Jahren Zwangsarbeit in Sibirien "verurteilt", ein Urteilsspruch ohne Anklage und Verfahren. Zum zweiten Mal bricht für ihn eine Welt zusammen, wieder benötigt er alle Kräfte, um nicht zu verzweifeln. Er hat gelernt und verinnerlicht: Wer verzweifelt, hat verloren und wird nicht überleben. Aber er will unbedingt überleben, er will der Welt erzählen, was sich in den sowjetischen Lagern abspielt, und er glaubt, dass er überleben wird.

Das ist das Fesselnde an diesem autobiografischen Buch: John Noble erzählt nicht nur, was er in den sowjetischen Lagern erlebt hat, wie es dort zuging, wie die Menschen geschunden und ermordet wurden. Diese Geschichten sind furchtbar, sie müssen geschrieben werden, damit die Erinnerung daran nicht verloren geht, und John Noble hat sich zur Lebensaufgabe gemacht, der Welt davon zu berichten, was er im Gulag erlebt hat.

Aber die bloße Lektüre der Schrecken wäre schwer zu ertragen und John Noble beschränkt sich nicht darauf. Er berichtet nicht nur, was ihm widerfahren ist, sondern er erzählt, wie man eine solche Hölle überleben kann. Und das ist das Spannende an diesem Buch.

Allein die Tage nach seiner Festnahme 1945: Er war als 21-jähriger junger Mann auf dem Sprung ins Leben, das viel für ihn verhieß und findet sich plötzlich ohne ersichtlichen Grund in einer winzigen Gefängniszelle wieder, bekommt nichts zu essen und zermartert sich den Kopf, warum ihm und seinem Vater das passiert ist und was aus ihnen wird.

Er lernt sich zu beherrschen, seine Freiheitssehnsucht zu zügeln und trotzdem fest an eine Freilassung zu glauben, nicht morgen, eines vielleicht fernen Tages. Er lernt, sich umsichtig zu verhalten, lernt, Aufsichtspersonal zu durchschauen und ihre Schwächen zu nutzen. Zahllose Häftlinge um ihn herum sterben an Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung oder auch daran, dass sie sich gehen lassen.

Er selbst gerät auch an den Punkt, dass er sich aufgibt und sterben will. In diesem Augenblick hat er ein so starkes religiöses Erlebnis, dass er gottgläubig wird, und dieser Glaube gibt ihm den Halt, der ihn vor dem Verzweifeln bewahrt.

Fast zehn Jahre steht er alles durch, dann bietet sich ihm eine winzige Chance, der Außenwelt ein Signal zu geben, dass es ihn noch gibt und mit außerordentlichem Geschick und unheimlich viel Glück erreicht er seine Entlassung.

Das Buch ist jetzt in überarbeiteter Form in zweiter Auflage erschienen, zusammen mit einer DVD, die den internationalen Gulag thematisiert. In einem Film, der ursprünglich für das französische Fernsehen produziert wurde, werden sieben Menschen vorgestellt, die ihn überlebt haben. John Noble ist einer von ihnen. Aber auch die Geschichten und die Erinnerungen der anderen sind bewegende Dokumente aus der Zeit der sowjetischen Lager.

John Noble: Gulag. Verbannt und verleugnet
Verlagshaus Förster, Dresden 2006
132 Seiten, mit DVD, 45 Euro