Wer über Tettnang spricht, meint Heimat

Von Uschi Götz |
Es gibt kaum Gründe wegzugehen. Wer es dennoch tut, kehrt bald wieder zurück. Wegen eines guten Jobs vielleicht, wegen der Landschaft und weil hier alles blüht, was blühende Landschaften im weitesten Sinne so hergeben. Florierende Firmen, beste klimatische Bedingungen für Forschung und Erfindergeist und Sonne satt. Wenn Provinz so aussieht, dann kann man der Großstadt getrost den Rücken kehren.
Es gibt Radfahrer, die schon fünfmal um den Bodensee gefahren sind, aber noch nie in Tettnang waren. Und das geht nicht nur Radfahrern so. Zugegeben: der Weg nach Tettnang ist mühsam, es geht bergauf; vielen Sommertouristen ist das zu beschwerlich und sie fahren deshalb weiter im Kreis um den Bodensee herum.

Andersherum verhält es sich ähnlich, wenn auch aus anderen Gründen. Zwar ist der Tettnanger in 15 Autominuten am See, aber ein echter Tettnanger meidet das Schwäbische Meer, zumindest in der Hochsaison. So kann es einem Sommerfrischler passieren, dass er das Beste verpasst: Er wird nie einen echten Tettnanger kennen lernen, einen leibhaftigen Oberschwaben, denn sie wohnen nicht am See:

Musik: "Das Oberschwaben halb so groß ist wie ein Zehntel von der Schweiz
Hättet ihr das denkt?
Das Zusammündung gleich nass ist wie der Nil,
dass es gar net wenig regnet und sogar eher viel.
Hättet ihr das denkt – mir it!
Oberschwaben, du Land der Extreme.
Oberschwaben, du Land der Extreme.
Der Extreme. "

Das Felchen Terzett gehört zu den wenigen Ausnahmen in Tettnang. Das mittlerweile mit einigen Musikpreisen ausgezeichnete A-cappella-Trio hat in jungen Jahren gemeinsam Urlaub am Bodensee gemacht. Von Tettnang aus sind sie gestartet, erinnert sich Josef Widmann, und nach genau 15 Fahrminuten waren sie am See:

"Mir haben zu dritt etwa vor zwölf Jahren uns überlegt, dass wir in Urlaub fahren wollen zu dritt und haben entschieden, mir machen Urlaub am Bodensee; was ja sehr nahe liegend ist von Tettnang aus, weil auf die Idee kommt eigentlich niemand.
Und um unsere Urlaubskasse bissle aufzubessern, haben wir entsprechend deutsche Volkslieder eingeübt und passend zum Bodensee als Trio war natürlich der Name Felchen als bekannter Fisch vom Bodensee nahe liegend und deshalb der Name Felchen Terzett."

Musik: "Der Oberschwab, der ist katholisch, der Erntehelfer auch und polisch.
Hättet ihr das denkt?
Und immer die eigene Mutter macht da beste Kartoffelsalat.
Und Telefon heißt Telefon oder Apparat.
Hättet ihr das denkt. Mir it."

Die Grafen von Montfort residierten von 1260 bis 1780 in der oberschwäbischen Stadt am Bodensee. Um sich ihre Träume von einem schwäbischen Versailles zu verwirklichen, verschuldeten sie sich bis in den Bankrott. Sie lebten so gut, dass sie 1780 all ihre Habe gegen eine Leibrente an Österreich verkaufen mussten. Ein Blick vom Neuen Schloss zu Tettnang lässt erahnen, weshalb die Grafen alles um sich herum vergessen konnten.

Doch es verbietet sich - allen voran Nicht-Einheimischen, sich an eine Landschaftsbeschreibung zu wagen. Der Grund: Hier weit über dem See, auf der Terrasse des Schlosses, gibt es keine Widerholungen. Das Licht, der Wind, die Stimmung, alles mischt sich jeden Tag neu, immer wieder anders in jeder Jahreszeit. Auch sprachlich berufene, wie etwa die Journalistin und Buchautorin Erika Dillmann, meiden eine Beschreibung der Landschaft:

"Ich kann die Landschaft, die gesamte Bodenseelandschaft, die gibt es so nicht. Der Bodensee hat so viele Gesichter, einfach schon die Größe des Bodensees; das ist das Schöne an der Bodenseelandschaft. Dass man sie nicht abhandeln kann, sondern, dass sie eigentlich im Lauf der Jahreszeiten von einem Erlebnis zum anderen führt."

Nach dem Krieg kam die heute über 80-jährige Schriftstellerin an den Bodensee. Eigentlich wollte sie mit ihrem Verlobten nach Amerika auswandern. Doch sie blieb; heute gehört sie zu den wenigen, denen es gelingt die Faszination der Bodensee-Jahreszeiten sichtbar werden zu lassen:

"Behutsamkeit; ein Hauch von Grün; der Himmel seidenblau über dem fernen Pastell der verschneiten Alpen, und zwischen hier und dort silberfarben der See. Der Frühling überfällt uns nicht. Langsam stellt er sich ein, in Schüben, und – als traue er dem Frieden nicht recht – fällt er immer wieder in die Kälte zurück. Aber wenn im späten April schon das Maigrün aus den Buchenkronen leuchtet und der Kuckuck meldet sich weithin hörbar aus Afrika zurück, dann ist sie wirklich da, die schönste Jahreszeit am See."

Untereinander sind sie sich nicht einig, die Tettnanger und solche die es geworden sind: Ist der Frühling oder der Herbst die schönste Jahreszeit? Der Sommer steht erst gar nicht zur Diskussion. Nicht nur, weil da die Touristen einfallen, sondern weil der Tettnanger dann mit der Ernte beschäftigt ist. Und zu ernten gibt es viel: Das berühmte Bodenseeobst, allen voran die Bodenseeäpfel müssen gepflückt werden. Aber mindestens genauso bekannt wie das Bodenseeobst ist der Hopfen. Seit über 150 Jahren wird das Grüne Gold rund um Tettnang angebaut. Mittlerweile ist der Hopfen unweigerlich mit der Gegend verbunden. Die Anfänge und Entwicklung des Anbaus können in einem wunderschönen Museum am Rande Tettnangs, mitten in den Hopfengärten gelegen, nachvollzogen werden. Hier erfährt man auch, dass die Gegend rund um Tettnang zu den siebtgrößten Hopfenanbaugebieten der Welt gehört. Hopfenbauer Dr. Bernard Locher:

"Ja, für Tettnang beginnt die weite Welt in Ravensburg, aber für den Tettnanger Hopfen ist sie schon etwas weiter – Süddeutschland in jeder Brauerei vertreten und dann geht es aber rund um den Globus. Sie finden Tettnanger Hopfen in Amerika, in Russland zunehmend und die großen Brauereien in Japan, in Tokio, die sind ganz scharf auf Tettnanger Hopfen."

Dillmann: "Mitten im Sommer wirft der Herbst am See einen Schatten voraus. Ein Schub kühlerer, feuchter Luft macht sich bemerkbar, in den Niederungen hängen dann und wann die ersten Morgennebel, fröstelnd spürt man, dass die Tage kürzer werden. Im oberschwäbischen Hinterland gehört diese alljährliche Erfahrung untrennbar zum Beginn der Hopfenernte im letzten Drittel des August. Jetzt fallen in den riesigen grünen Gevierten, die seit vielen Wochen den Blick durchs Tal verstellt haben, die ersten Ranken. Tag um Tag wird es lichter, und es dauert keine zwei Wochen, bis wieder die Stangengerüste Der leeren Hopfengärten der Landschaft um Tettnang das Gesicht geben."

Die Oberschwaben gehören zu den glücklichsten Menschen in ganz Deutschland. Zu diesem Ergebnis kommt die große Umfrage "Perspektive Deutschland". 620.000 Menschen leben in der Region Bodensee-Oberschwaben. Bei der Befragung gaben 84 Prozent der Bewohner an, zufrieden zu sein. Ist es die Landschaft oder gar doch das Endprodukt des Hopfens, das diese Menschen glücklich macht. Neun Kinder, so viele wie fast nirgends werden pro Tausend Einwohner im Jahr geboren. Woran liegt das?

"Die Umgebung, die Schulen, die Einkaufsmöglichkeit wie in einer Großstadt; mir fehlt nichts und trotzdem bin ich auf dem Land, für mich ruhig."
"Ja, ich fühle mich einfach hier verbunden, bin hier aufgewachsen. Ich habe meine ganzen Bekannten hier. Kinderbetreuung ist gut, also das ist viel Wert für mich. Kann alles zu Fuß erreichen, das ist für mich eine große Wertigkeit, muss ich ehrlich sagen."

Oberschwaben ist katholisch und konservativ, so das Urteil manch eines fernen Stuttgarters. Dieses Urteil kommt nicht von ungefähr. In Oberschwaben gewinnt die CDU jede Wahl, schon immer. Oberland ist Hinterland spöttelt man in Stuttgart auch.
Antje von Dewitz kennt die Vorurteile über Oberschwaben. Sie ist Marketingchefin von Vaude in Tettnang:

"Also in der Vergangenheit war das schon ein Problem, da wurde Tettnang dann schon eher am Ende der Welt gesehen und mitten in der Pampa und auch noch in einer schwarz gefärbten Pampa; das war jetzt nicht unbedingt das attraktivste Fleckchen Erde. Diese Wahrnehmung hat sich komplett geändert. Also, das merken wir auch an den Bewerbungen. Also früher haben wir immer gefragt: 'Und sind sie sich darüber im Klaren, dass sie hier aufs Land ziehen?' Und jetzt sagen uns die Bewerber schon im Voraus: '..und zusätzlich finde ich ganz toll, dass ich nach Tettnang kann und in diese tolle Gegend und toller Bodensee…' Also, es scheint auch eine veränderte Wahrnehmung, ne veränderte Wertschätzung stattzufinden."

Antje von Dewitz Vater, Albrecht von Dewitz, hatte vor 32 Jahren in Tettnang als Ein-Mann-Betrieb angefangen. Heute beschäftigt (der Hersteller von Outdoor- Produkten) Vaude weltweit über 1000 Mitarbeiter. Die Unternehmerfamilie hätte viele Gründe sich ein Teil des Erfolges der Region auch auf die eigene Fahne zu schreiben. Doch das wollen sie nicht, Antje von Dewitz verweist bescheiden auf die Einheimischen:

"Es gibt hier unheimlich viele Originale in Tettnang. Also, liebenswerte, liebevolle Menschen, die einen ganz eigenen Humor haben; sei das jetzt unser Bäcker Seppi Reck, wenn er auf seiner Harley fährt und Hopfenkügele entwirft…"

Es muss wohl auf einer seiner Motorradfahrten gewesen sein, als Bäcker Seppi Reck sein Handwerk wörtlich zu verstehen begriff: Backkunst!

"Also da haben wir so Schokolade kreiert, mit einheimischen Künstlern, die die Banderolen gemacht haben und jedes Stück signiert haben. So dass jede Tafel Schokolade ein Unikat war, wie zum Beispiel mit einem Inhalt von Curry und Banane oder Ingwer, Haselnuss-Mango, lauter exotische Gewürze, die alle hervorragend zusammenpassen."

Der Bäcker wäre kein Tettnanger, würde er nicht weiter denken. Die Kunstschokolade entwickelte sich zur Szenenköstlichkeit; Seppi Reck beantragte Markenschutz beim Patentamt und zog los:

"Mit den Schokoladentafeln sind wir dann auf die größte Messe für zeitgenössische Kunst nach Innsbruck gegangen, in Österreich. Und sind bei unserer Galeristin, der Birgit Faissel, hingestanden, und wir haben so einen Zulauf gehabt und da hat sich auch mehrere Folgeaufträge ergeben, so dass inzwischen ein Schwung, wirklich alles was Rang und Namen hat an Tiroler zeitgenössischen Kunst mitmacht."

Musik: "Dass Bodensee und Mittelmeer an ihrer flachsten Stelle gleich tief sind. Hättet ihr das denkt? Dass Oberschwaben mittle zwischen seine Nachbarn liegt und das man jedes Jahr gleich viele Giese wie Kirschen pflückt.
Hättet ihr des denkt? Mir it.
Oberschwaben, du Land der Extreme.
Oberschwaben, du Land der Extreme.
Der Extreme."

Oberschwaben hat von allem ein bisschen mehr. Nach Oberbayern kommen aus dem Südosten Baden-Württembergs die meisten Patentanmeldungen. Tettnang mit seinen 18.500 Einwohnern muss sich auch um den musikalischen Nachwuchs nicht sorgen. Während andere Städte kaum eine Musikkapelle zusammenkriegen, gibt es in Tettnang gleich acht. Fünf Sportvereine stehen bewegungsfreudigen Tettnangern zur Verfügung. Ebenso weist die ortseigene Statistik eine unterdurchschnittliche Kriminalität auf. All das hat Gisbert Hoffmann nicht gewusst, als er vor 30 Jahren aus dem Sauerland nach Tettnang kam:

"In den ersten Jahren hat man immer mal wieder einmal gedacht, man zieht mal wieder weg und mein erstes Ansinnen war auch, zwei Jahre muss man auch mal irgendwo bleiben, damit man auch mal wo Fuß fasst, aber aus den zwei Jahren ist eine Arbeitswelt geworden und der dritte Lebensabschnitt wird auch da enden."

Gisbert Hoffmann war Ingenieur bei ZF in Friedrichshafen. Nun ist er im Ruhestand und schreibt Bücher unter anderem über die wirtschaftliche Entwicklung der Region.
Als "Reingeschmeckter" kann er heute fast am besten von allen sagen, weshalb es sich im Vergleich zu anderen Regionen in Deutschland in Tettnang zu so gut leben lässt:

"Es ist gewachsen durch die Struktur – Elektroschule, Elektronikwissen, Know how ist am Standort und das natürlich verbunden mit einem hohen Freizeitwert der Landschaft und der Stadt."

Vor allem die Elektroindustrie ist es, die den Tettnangern sichere Arbeitsplätze bietet. Fast immer von ihren Inhabern geführte Unternehmen sorgen für ausreichend Arbeitsplätze in der Region. Die Arbeitslosenquote liegt bei 5,5 Prozent. Der größte Arbeitgeber IFM Elektronic braucht ständig neue Leute, so dass Tettnang bis zum Jahr 2020 einen Einwohnerzuwachs von 13 Prozent erwarten kann.
Sichere Arbeitsplätze, wohl am ehesten hier, ist das eigentliche Glück der Tettnanger. Von der Metallverarbeitung über die Raumfahrttechnik bis hin zur Opto-Elektronik, im Oberschwäbischen finden sich viele namhafte High-Tech-Betriebe. Begründet wurde der Aufschwung der Region vor über 50 Jahren:

"Es kam Mitte der 50er Jahre ein Dr. Klein nach Tettnang, der ein Pionier auf dem Gebiet der Elektronik war. Und der hat hier vorgefunden natürlich nur handwerkliche Berufe und er wurde von dem damaligen Bürgermeister auch angeworben und er hat sich sehr für die schulische Ausbildung der Elektronik stark gemacht. Aus der auch dann eine Elektronikschule entstanden ist und das war so meines Erachtens nach der Ursprung der heutigen Wirtschaftskraft."

Wenig Arbeitslose, eine inspirierende Landschaft und ein freundliches Klima - nicht von ungefähr leben genau auf diesen 3500 Quadratmetern Oberschwaben, die mit dem gängigen Bild von einem richtigen Schwaben wenig zu tun haben. Es scheint bisweilen als reiche der Geist der Oberschwaben weit über die sonst landesübliche Lebenseinstellung hinaus. "Schaffe, schaffe Häusle bauen" gehört auch hier zur Grundmotivation. Aber gleich den Grafen von Montfornt scheinen die Oberschwaben manchmal alles um sich herum zu vergessen, dann leben sie und zwar richtig gut. Bäcker Seppi Reck liefert die mögliche Erklärung:

"Ich denke die oberschwäbische Mentalität. Also ich fühle mich, wenn ich ganz ehrlich bin, zehn Mal mehr zu einem Voralberger oder zu einem Seeschweizer vom Wesen und Mentalität hingezogen, wie zum Beispiel Richtung Stuttgart. Es ist einfach eine andere Region hier, mir denken einfach anders wie sie in Stuttgart denken, das ist einfach so. Warum weiß ich nicht, hat wahrscheinlich mit den Allemannen zu tun."

Wahrscheinlich oder auch nicht. Das Glücksphänomen in Oberschwaben lässt sich nicht abschließend klären. Aber ist nicht genau das das Geheimnis des Glücks? Und allen Glücksuchenden sei gesagt: Das Gehörte ist eine Momentaufnahme, eben wie jener einzigartige Blick von den Höhen Tettnangs auf die Weite des Sees. All jenen, sei dies ans Herz gelegt, die nun aufbrechen wollen, um auch etwas vom oberschwäbischen Glück zu erspüren. In "Zu Gast am Bodensee" schreibt Erika Dillmann:

"Mit Landschaften kann es gehen wie mit Menschen. Man meint, sie zu kennen, hat schon viel von ihnen gehört, hat Beschreibungen gelesen, ist ihnen vielleicht schon einmal kurz begegnet und muss sich schließlich doch eingestehen, dass sie im Grunde noch immer unbekannt geblieben sind; eine umrisshafte Vorstellung, ein vages Traumbild, eines der vielen Klischees, mit denen umzugehen wir uns ohne viel Nachdenken angewöhnt haben. Aber der Augenblick dieser Einsicht, dass wir wieder einmal im Begriff sind, in eine unbekannte Welt zu tun, ist auch der Anfang der Faszination."