Wer sorgt sich um die Seele?

Von Friedemann Richert |
Die Zahl der psychisch Kranken steigt von Jahr zu Jahr. Ein Grund mag in der modernen Psychologie selbst liegen: Sie strebt nicht nach philosophischer Einsicht und Wahrheit und kann darum nicht für das Gute der Seele sorgen. Der Theologe Friedemann Richert fordert daher eine Seelsorge im Sinne Platons.
Platon hat ihn aufgeschrieben, jenen Königssatz. Gesprochen hatte ihn Sokrates zu seinen Anklägern, die ihn vor Gericht der Gottlosigkeit und der Verführung der Jugend bezichtigten:

"Mein Bester, du bist doch ein Bürger der an Bildung berühmtesten Stadt Athen. Schämst du dich nicht, dass du dich zwar bemühst, wie du zu möglichst viel Geld, zu Ruhm und Ehre kommst, um Einsicht, um Wahrheit und dass deine Seele möglichst gut werde, dich aber weder sorgst noch kümmerst."

Bei einem Schuldspruch drohte Sokrates die Todesstrafe. Um ihr zu entgehen, wurde ihm ein Tauschgeschäft vorgeschlagen: Er solle sein Leben, nur um der Wahrheit willen, nicht einfach wegwerfen. Mit Geld, Ruhm und Ehre lasse sich doch auch ganz gut leben. Hingegen seien das Streben nach Einsicht und Wahrheit und die Sorge um die eigene Seele nicht lebensnotwendig. Sokrates antwortete: "Ich will lieber dem Gott als euch gehorchen, und solange ich atme und die Kraft dazu habe, nicht ablassen zu philosophieren."

Denn die Sorge um die himmlische Seligkeit seiner Seele bedeutete Sokrates mehr als ein irdisches Leben mit Geld und Ruhm. Darum wurde er 399 vor Christus mit dem Schierlingsbecher hingerichtet. Er starb als Zeuge für das Ziel aller Seelsorge, die Platon: "die Angleichung des Menschen an Gott" nennt.

Schöne Wahrheit, profane Wirklichkeit
Sokrates wurde oft entgegengehalten, man könne doch – um des Seelenheils willen – nicht einfach einen Nachteil billigend in Kauf nehmen. Sokrates pflegte darauf zu antworten: "Wer ist man? Was alle sagen, ist nicht wichtig. Denn nicht alle haben nachgedacht. Lass uns lieber sehen, ob wir beide, du und ich, nicht miteinander ins Gespräch kommen über die Wahrheit, die Gerechtigkeit und das Gute. Unsere Seelen werden dabei des Himmlischen ansichtig."

Über Jahrhunderte hatte Platon unsere abendländische Kultur geprägt: Die gängigen Begriffe "Theologie" und "Seelsorge" sind nicht der kirchlichen Tradition entsprungen. Sie entstammen vielmehr der Philosophie Platons. Diese unterscheidet die schöne Wahrheit von der profanen Wirklichkeit. Leben ist nämlich nicht gleich Leben. Es kann wahrhaftig gut oder wirklich schlecht geführt werden. Jede Seele gibt davon Zeugnis: Denn Vernunft, Lebensmut und Begehren regieren in ihr. Diese drei Seelenkräfte müssen im Einklang miteinander bleiben, soll die Seele gut werden. Dazu bedarf es der Einsicht in die Wahrheit, das Gute und die Gerechtigkeit. Oder, wie Platon sagt, in Gott, den Vater des Alls.

Zeit für eine Wiederentdeckung der Seelenlehre Platons
Niemand irrt freiwillig. Im Gespräch kann jeder seinen Irrtum einsehen und das Gute erkennen. Darum kann jeder Mensch sehr wohl seine Bedürfnisse zum Guten für seine Seele ordnen. Er muss es nur wollen. Das ist Seelsorge im Sinne Platons. Der Mensch ist Herr im Haus seiner Seele. Mittlerweile ist Platon in Vergessenheit geraten. Gekommen ist die Psychologie mit ihrem ganzen Heer von säkularen Therapeuten. Selbst kirchliche Beratungsstellen von Diakonie und Caritas sind fest in ihrer Hand.

Der Psychologie indes ist die Unterscheidung von Wahrheit und Wirklichkeit, von himmlisch und irdisch wesensfremd. Die Angleichung der Seele an Gott ist hier undenkbar. Für säkulare Institutionen mag das angehen. Aber auch für kirchliche?

Die Zahl der psychisch Kranken steigt von Jahr zu Jahr. Ein Grund mag in der modernen Psychologie selbst liegen: Sie strebt nicht nach philosophischer Einsicht und Wahrheit und kann darum nicht für das Gute der Seele sorgen. Dennoch beansprucht sie die Deutungshoheit fürs Seelenleben.

Es ist Zeit, die Seelenlehre Platons und die kirchliche Seelsorge wieder zu entdecken. "Denn was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?"

Friedemann Richert, geb. 1959, ist promovierter evangelischer Theologe und Dekan des Kirchenbezirks Künzelsau. Er hielt Ethikseminare bei verschiedenen Wirtschaftsunternehmen ab und veröffentlichte u.a. die Bücher "Denken und Führen" (2006); "Kleine Geistesgeschichte des Lachens" 2009, "Platon und Christus" (2012).
Der Theologe Friedemann Richert
Der Theologe Friedemann Richert© privat
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