Wer profitiert von der großen Koalition?

Von Norbert Seitz |
Manche rieben sich dieser Tage die Augen, als bei der Klausurtagung der großen Koalition in der brandenburgischen Ödnis von Genshagen von einem neuen Gemeinschaftsgefühl die Rede war.
Geben wir es ruhig zu, dass uns solche Bekundungen schon ein wenig gut tun - nach dem quälend halbjährigem Interregnum zwischen Heide Simonis Scheitern in Kiel, dem schwierigen Neuwahlprocedere bis hin zu Angela Merkels Kanzlerinnenwahl.

Haben wir uns nicht eine agitationsfreie Ruhepause verdient nach dem Trommelfeuer der Medien gegen die handwerklich so defizitäre rot-grüne Regierung? Notorische Kritiker einer großen Koalition pflegen dagegen das Mammutbündnis für einen faulen Pakt der Formelkompromisse und des Stillstands zu halten.

Schlimmer noch wittern Skeptiker wie Heribert Prantl sogar hinter der Elefantenhochzeit den geheimen Wunsch der Deutschen nach einem "starken Mann", obwohl sie doch die Frau als Kanzlerin bekommen haben.

Schon zu Beginn lieferte uns die neue Regierung eine wahre Entzauberung aller noch im Wahlkampfgetümmel ausgestoßenen Untergangsparolen. Die außenpolitischen Differenzen scheinen sich wie eine Brausetablette aufzulösen, während man kein Prophet sein muss, um vorherzusagen, dass beim bevorstehenden Gesundheitskompromiss von der angeblich rettenden Systemalternative kaum etwas übrig bleiben dürfte.

Nach der letzten Patrone gegen Rot-Grün ist die konservative Presse eifrig bemüht, die Bundeskanzlerin mit Haltungsbestnoten zu überschütten. Derweil reiben sich die linksliberalen Medien am kruden Pragmatismus der Vereinbarungen und geizen nicht mit Häme für das reihenweise Einknicken der beteiligten Minister.

Auch wenn sich noch keine Erfolge eingestellt haben und folglich Lorbeeren nicht verteilt werden können, wird schon wild darüber spekuliert, welche der beiden Volksparteien wohl von der großen Koalition am Ende mehr profitieren könnte.

Wie so häufig in den letzten Wochen taugt auch in diesem Fall nicht der historische Rückgriff auf die erste große Koalition Ende der 60er Jahre. Damals war es nämlich die Union, deren kleine Koalition gescheitert war, während sich die SPD auf das Vertrauen vieler neuer Wähler in den Kommunen und Ländern stützen konnte.

Am Ende legte sie mit Brandt und Schiller bei der Bundestagswahl ´69 zu und errang erstmalig die Kanzlerschaft, während die Unionsparole "Auf den Kanzler kommt es an" ihre wahlentscheidende Wirkung verfehlen sollte.

2005 ist die Situation für die Sozialdemokratie eine völlig andere. Dem erneuten Bündnis mit der Union waren seit 2002 massive Verluste auf kommunaler Ebene und bei Landtagswahlen vorausgegangen. Und auf Bundesebene konnte sie den Erfolg einer links von ihr agierenden Protestpartei nicht verhindern.

Andererseits hat das Bundestagsergebnis in Stammländern wie Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen oder Hessen gezeigt, dass die SPD dort die Talsohle offenbar durchschritten hat. Deftige Niederlagen wie bei den Anti-Agenda-Protestwahlergebnissen in den Ländern sind von daher kaum mehr zu erwarten.

Die Auguren neigen dennoch zur Auffassung, dass nach dem ziemlich kläglichen Ende von Rot-Grün eine erfolgreiche, von den Bürgern positiv bewertete Arbeit dieser Koalition bundesweit wohl eher der Union und deren Kanzlerin zugute kommen könnte. Und dies, obwohl sich die neu aufgestellte Ministerriege der SPD hinter dem Aufgebot von CDU und CSU weiß Gott nicht zu verstecken braucht.

Doch was heißt schon groß gewinnen, wenn der kleinen bürgerlichen Konkurrenz von der FDP derzeit allerorten zweistellige Traumresultate zu Lasten der Union zugetraut werden. Zur Jahreswende 2005 zumindest bewegte sich die Partei jenseits von Schröder wieder in Richtung der 30-Prozent-Marke, während die Merkel-Partei auf die 40-Prozent zusteuerte.

Die Anhänger der CDU sind zufrieden damit, dass ihre Partei jenseits Helmut Kohls endlich wieder an der Macht auf Bundesebene beteiligt ist und zudem das wichtigste politische Amt im Lande innehat. Das Risiko, über die Einführung der Mehrwertsteuer 2007 weitere Wähler zu verlieren, dürfte bei der Union geringer sein als bei den Sozialdemokraten, die gegen die so genannte Merkel-Steuer im Wahlkampf punkteten.

Festzuhalten bleibt dennoch, dass beide Parteien bislang nicht fähig waren, ihre Niederlagen bei der Neuwahl des Bundestags aufzuarbeiten, wo sie das erste Mal zusammengerechnet unter 70 Prozent lagen. Die Union war aus nahe liegenden Gründen dazu nicht in der Lage, weil sie ihre gerade gewählte Kanzlerin hätte demontieren müssen.

Ebenso scheinen weite Teile der SPD über die Freude, gerade noch einmal davongekommen zu sein, das Faktum des Wahlverlustes vergessen zu haben.

Wer auch immer am Ende zu den Profiteuren einer großen Koalition zählen mag - bleibt nur zu hoffen, dass auch die Bürger unter ihnen sind.


Norbert Seitz, geboren 1950 in Wiesbaden, promovierter Politologe, ist verantwortlicher Redakteur der politischen Kulturzeitschrift "Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte"; schreibt u.a. für den "Tagesspiegel", die "Frankfurter Rundschau" und verschiedene Magazine. Letzte Buchveröffentlichung: "Die Kanzler und die Künste. Die Geschichte einer schwierigen Beziehung" (2005).