Wer kann Sütterlin?
Das Berlin-Brandenburgische Wirtschaftsarchiv suchte Senioren, um die Briefe eines Schiffsarztes zu veröffentlichen: Sie sind die einzigen, die heute noch alte Schreibschriften, Sütterlin oder alte Kurrentschrift lesen können. Das Echo darauf war enorm.
"Ich wollte jetzt nur wissen, ob ich die Seitenzahlen obendrauf schreiben soll? / Die Seitenzahlen des Originals sollen im Text, sollen im Transskript vermerkt werden. Wann ein Brief beginnt, wann der Umschlag, das muss auch immer alles vermerkt werden. / Ja, dann schreibe ich nur rüber Seite 24 und dann geht's weiter. / Na prima."
Helga Kryzagorski beugt sich hochkonzentriert über einen Stapel vergilbter Briefe. Der Leiter des Berlin-Brandenburgischen Wirtschaftsarchivs erklärt, wie sie die Briefe transkribieren muss. Transkribieren bedeutet Lesen und Abtippen. Für die 81-jährige Dame ist das kein Problem.
Die handschriftlichen Briefe sind über 100 Jahre alt. Sie stammen aus dem Nachlass des Schiffsarztes Dr. Alfred Abenhausen, der damals für den Norddeutschen Lloyd in der ganzen Welt unterwegs war.
"Das ist jetzt ein Brief der Mutter an ihren Jungen und der ist vom 4. November 1901. Sie sehen die Schrift, also viele sagen, das sind ja nur Striche. Und das ist der Brief, so wie ich ihn geschrieben habe, das ist dann … sie schreibt hier: Der Pest wegen in Hongkong habe ich mich oft um Dich geängstigt mein guter Alfred, hoffentlich seid ihr nicht soviel an Land gewesen wegen der Ansteckung."
Helga Kryzargorski trifft sich heute mit zwei Mitstreitern zum Erfahrungsaustausch. Sie und ein gutes Dutzend weiterer Senioren haben für das Berlin-Brandenburgische Wirtschaftsarchiv die Briefe und Tagebücher des Schiffsarztes transkribiert. Freiwillig und ehrenamtlich und um mit ihren Kenntnissen etwas Nützliches bewirken zu können, denn die 57 Briefe und Tagebücher sind in Sütterlin, Current oder ganz alter hauchfeiner, winziger Schreibschrift verfasst. Die 70-jährige Ingrid Schönfeld hat sich mit den Tagebüchern des Schiffsarztes befasst.
Jetzt liegen sie vor ihr, blasse kleine Buchstaben auf gelblichem Papier:
"Naja, das ist alles mehr so spitz geschrieben, während das ja hier schon so Schreibschrift, also unserer heutigen Schreibschrift ähnlich ist. Ich kenne Sütterlin auch unter 'die deutsche Schrift', hat man dazu gesagt."
Früher wurde Sütterlin als Schönschrift in der Schule gelehrt, heute kann das fast niemand mehr. Die ehrenamtlichen Transkribenten sitzen in der Bibliothek des Wirtschaftsarchives an einem schweren Tisch, umgeben von meterhohen Bücherwänden. Die Erfahrungen des Schiffsarztes Dr. Alfred Abenhausen wurden dem Archiv von einem Nachfahren angeboten. Björn Berghausen, der Geschäftsführer des Wirtschaftsarchivs, hat sich sehr darüber gefreut, denn er ist überzeugt davon, dass so etwas genau hierher gehört:
"Wenn man an Wirtschaft denkt, denkt man ganz häufig an Leute in Nadelstreifen, ans Geldverdienen. Weil sie Dr. Abenhausen nicht als Reiseschriftsteller missverstanden hat, sondern berichtet hat, was an Bord passiert ist, ist das eine seltene Quelle der Alltagsgeschichte.
Es geht hier um Medizingeschichte, das heißt hier erleben wir einen Menschen seiner Zeit. Konservativ, Bismarck-Anhänger und gleichzeitig jemand, der in die ´Negerrepublik` Nigeria fährt, der interessiert ist an der ganzen Welt. In dieser Person kommen ganz viele Aspekte zusammen, die mittelbar auch immer mit Wirtschaft zu tun haben."
Helga Kryzagorski beugt sich hochkonzentriert über einen Stapel vergilbter Briefe. Der Leiter des Berlin-Brandenburgischen Wirtschaftsarchivs erklärt, wie sie die Briefe transkribieren muss. Transkribieren bedeutet Lesen und Abtippen. Für die 81-jährige Dame ist das kein Problem.
Die handschriftlichen Briefe sind über 100 Jahre alt. Sie stammen aus dem Nachlass des Schiffsarztes Dr. Alfred Abenhausen, der damals für den Norddeutschen Lloyd in der ganzen Welt unterwegs war.
"Das ist jetzt ein Brief der Mutter an ihren Jungen und der ist vom 4. November 1901. Sie sehen die Schrift, also viele sagen, das sind ja nur Striche. Und das ist der Brief, so wie ich ihn geschrieben habe, das ist dann … sie schreibt hier: Der Pest wegen in Hongkong habe ich mich oft um Dich geängstigt mein guter Alfred, hoffentlich seid ihr nicht soviel an Land gewesen wegen der Ansteckung."
Helga Kryzargorski trifft sich heute mit zwei Mitstreitern zum Erfahrungsaustausch. Sie und ein gutes Dutzend weiterer Senioren haben für das Berlin-Brandenburgische Wirtschaftsarchiv die Briefe und Tagebücher des Schiffsarztes transkribiert. Freiwillig und ehrenamtlich und um mit ihren Kenntnissen etwas Nützliches bewirken zu können, denn die 57 Briefe und Tagebücher sind in Sütterlin, Current oder ganz alter hauchfeiner, winziger Schreibschrift verfasst. Die 70-jährige Ingrid Schönfeld hat sich mit den Tagebüchern des Schiffsarztes befasst.
Jetzt liegen sie vor ihr, blasse kleine Buchstaben auf gelblichem Papier:
"Naja, das ist alles mehr so spitz geschrieben, während das ja hier schon so Schreibschrift, also unserer heutigen Schreibschrift ähnlich ist. Ich kenne Sütterlin auch unter 'die deutsche Schrift', hat man dazu gesagt."
Früher wurde Sütterlin als Schönschrift in der Schule gelehrt, heute kann das fast niemand mehr. Die ehrenamtlichen Transkribenten sitzen in der Bibliothek des Wirtschaftsarchives an einem schweren Tisch, umgeben von meterhohen Bücherwänden. Die Erfahrungen des Schiffsarztes Dr. Alfred Abenhausen wurden dem Archiv von einem Nachfahren angeboten. Björn Berghausen, der Geschäftsführer des Wirtschaftsarchivs, hat sich sehr darüber gefreut, denn er ist überzeugt davon, dass so etwas genau hierher gehört:
"Wenn man an Wirtschaft denkt, denkt man ganz häufig an Leute in Nadelstreifen, ans Geldverdienen. Weil sie Dr. Abenhausen nicht als Reiseschriftsteller missverstanden hat, sondern berichtet hat, was an Bord passiert ist, ist das eine seltene Quelle der Alltagsgeschichte.
Es geht hier um Medizingeschichte, das heißt hier erleben wir einen Menschen seiner Zeit. Konservativ, Bismarck-Anhänger und gleichzeitig jemand, der in die ´Negerrepublik` Nigeria fährt, der interessiert ist an der ganzen Welt. In dieser Person kommen ganz viele Aspekte zusammen, die mittelbar auch immer mit Wirtschaft zu tun haben."
Eine sinnvolle Aufgabe, die Spaß macht
Björn Berghausen hatte die Idee, die Senioren um Hilfe zu bitten. 70 hatten sich auf einen Aufruf in der Zeitung gemeldet. Für die meisten ist auch der Umgang mit Computer und E-mail kein Problem. Einige haben die Texte anderen einfach diktiert. Und von Helga Kryzargorski konnte der studierte Historiker und Altgermanist auch noch etwas lernen:
"Ich habe heute erzählt, dass ich bisher nur ein einziges Wort nicht erkennen konnte und als es auf dem Tisch lag, hörte ich sofort, das sei der Walfisch. Haha, ja, das war rot unterstrichen und Herr Berghausen zeigte es uns und sagte: Da kommen wir nicht hinter, was das ist, ich sagte: Na das ist der Walfisch, haha."
Spaß an den spannenden Texten und Spaß an einer sinnvollen Aufgabe stehen für die Senioren im Vordergrund. Der 76-jährige Roland Schmidt ist einer von denen, die die alte Schrift auch als Kulturgut erhalten möchten:
"Mein Werkzeug ist die Sprache. Ich war mal Dolmetscher und da hat mich das brennend interessiert, was war da los, zumal von Ländern die Rede ist, in denen ich auch schon mal war."
Deshalb muss auf dem Treffen auch Zeit sein, die Lieblingsstellen in den Briefen und Tagebüchern des Schiffsarztes mit den anderen zu teilen. Über das beste Zitat sind sich alle hier einig - Björn Berghausen muss vorlesen:
"Mein lieber Alfred, vor allem muss ich Dir schreiben, dass Du nicht in den Bismarckarchipel zu den Kannibalen gehst. Mutter hört fast schon vor Angst jetzt schon Deine Knochen zwischen deren Zähnen krachen und sieht im Geiste, wie sie sich mit Wohlbehagen ihren braunen Bauch streichen und ihre fettigen Finger nach der Mahlzeit Deines süßen Bratens lecken. Setze also gar kein Fett an auf der New Yorker Reise, es wird sonst immer gefährlicher, sondern sei hübsch fleißig, lass Dir von Kollegen nicht alles wegschnappen und bringe einen wüsten Berg des schnöden Mammons heim."
"Ich habe heute erzählt, dass ich bisher nur ein einziges Wort nicht erkennen konnte und als es auf dem Tisch lag, hörte ich sofort, das sei der Walfisch. Haha, ja, das war rot unterstrichen und Herr Berghausen zeigte es uns und sagte: Da kommen wir nicht hinter, was das ist, ich sagte: Na das ist der Walfisch, haha."
Spaß an den spannenden Texten und Spaß an einer sinnvollen Aufgabe stehen für die Senioren im Vordergrund. Der 76-jährige Roland Schmidt ist einer von denen, die die alte Schrift auch als Kulturgut erhalten möchten:
"Mein Werkzeug ist die Sprache. Ich war mal Dolmetscher und da hat mich das brennend interessiert, was war da los, zumal von Ländern die Rede ist, in denen ich auch schon mal war."
Deshalb muss auf dem Treffen auch Zeit sein, die Lieblingsstellen in den Briefen und Tagebüchern des Schiffsarztes mit den anderen zu teilen. Über das beste Zitat sind sich alle hier einig - Björn Berghausen muss vorlesen:
"Mein lieber Alfred, vor allem muss ich Dir schreiben, dass Du nicht in den Bismarckarchipel zu den Kannibalen gehst. Mutter hört fast schon vor Angst jetzt schon Deine Knochen zwischen deren Zähnen krachen und sieht im Geiste, wie sie sich mit Wohlbehagen ihren braunen Bauch streichen und ihre fettigen Finger nach der Mahlzeit Deines süßen Bratens lecken. Setze also gar kein Fett an auf der New Yorker Reise, es wird sonst immer gefährlicher, sondern sei hübsch fleißig, lass Dir von Kollegen nicht alles wegschnappen und bringe einen wüsten Berg des schnöden Mammons heim."
Den Menschen etwas näher sein
Roland Schmidt und Ingrid Schönfeld greifen sich ein altes Schwarz-Weiß-Foto, das auf dem Tisch liegt. Dr. Alfred Abenhausen stolz mit hochgezwirbeltem Schnauzer, Uniform, weißer Mütze und weißen Schuhen auf seinem Schiff, der "Bremen" vom Norddeutschen Lloyd. Durch die handschriftlichen Briefe und Tagebücher sind die Transkribenten ihm und seiner Mutter sehr nahe gekommen, näher als es durch ein gedrucktes Buch möglich gewesen wäre:
"Irgendwie hat man das so vor sich gesehen, so wie er das beschreibt. Irgendwie persönlicher. So ein gedrucktes Buch, das liest sich anders. Man ist da näher dran. Man hat den direkten Zugang zu den Gedanken der Leute und das hat noch kein anderer gemacht, das harrt ja erst noch der Entdeckung."
Die Erfahrungen des Schiffsarztes sollen demnächst als Buch erscheinen. Die meisten Senioren wollen aber gerne weiter machen. Der nächste alte Briefnachlass des Berlin-Brandenburgischen Wirtschaftsarchivs stammt aus den Jahren 1900 bis 1933 und umfasst 800 Briefe, in denen es um Schulgründungen, Philosophie und Bildung geht.
"Irgendwie hat man das so vor sich gesehen, so wie er das beschreibt. Irgendwie persönlicher. So ein gedrucktes Buch, das liest sich anders. Man ist da näher dran. Man hat den direkten Zugang zu den Gedanken der Leute und das hat noch kein anderer gemacht, das harrt ja erst noch der Entdeckung."
Die Erfahrungen des Schiffsarztes sollen demnächst als Buch erscheinen. Die meisten Senioren wollen aber gerne weiter machen. Der nächste alte Briefnachlass des Berlin-Brandenburgischen Wirtschaftsarchivs stammt aus den Jahren 1900 bis 1933 und umfasst 800 Briefe, in denen es um Schulgründungen, Philosophie und Bildung geht.