Wer ist wirklich arm?

Von Klaus Schroeder |
Der Untergang des realen Sozialismus hat die Gemütslage linker Politiker und Intellektueller gerade in Deutschland nachhaltig verstört. Ihre über Jahrzehnte gebetsmühlenartig vorgetragenen Prognosen von der Krisenhaftigkeit des Kapitalismus und seinem drohenden Ende erwiesen sich als Wunschtraum, das unverhoffte Verschwinden des Sozialismus als Albtraum.
Die soziale Marktwirtschaft, die den Bürgern der alten Bundesrepublik über Jahrzehnte Wohlstand und soziale Sicherheit garantiert hatte, zeigte sich stark genug, die hohen finanziellen Kosten der Wiedervereinigung zu schultern. Das Dunkel im Gemüt linker Milieus hellte sich erst auf, als 2008 die amerikanische Politik des billigen Geldes in eine Immobilien- und Finanzkrise mündete. Doch die Hoffnung, der Kapitalismus würde nun in die Knie gehen, erwies sich bezogen auf Deutschland als Illusion. Der Wohlstand bröckelte nur wenig, die Arbeitslosigkeit geht inzwischen sogar zurück und liegt deutlich unter dem Niveau der letzten 20 Jahre. Im internationalen Vergleich steht Deutschland wesentlich besser und stabiler da, als es die veröffentlichte Meinung suggeriert.

Vor dem politischen Ertrinken rettete die Linke in den letzten Jahren nur die Rede von der "sozialen Gerechtigkeit", die hierzulande immer mehr unter die Räder des Neoliberalismus geraten sei. Da kommen Studien wie die kürzlich veröffentlichte des DIW zur angeblichen Zunahme der Einkommensungleichheit gerade recht. Die Medien überschlugen sich mit Schlagzeilen wie "Reiche werden immer reicher, Arme immer ärmer" oder "Deutschland spaltet sich wieder" oder "Die Mittelschicht schrumpft". Schaut man jedoch genauer auf diese und andere vergleichbare Daten, stellt sich das Bild gänzlich anders dar.

Die Ungleichheit der monatlichen Haushaltseinkommen lag im letzten Jahr auf dem gleichen Niveau wie zu Beginn der Wiedervereinigung und die mittleren Einkommensgruppen, von vielen Autoren fälschlich 'Mittelschicht' genannt, stellen weiterhin etwa 60 Prozent der Einkommensbezieher. Dabei sind Schwankungen nach oben und unten der natürliche Verlauf. Langfristig hat sich die Ungleichheit jedoch nicht verändert, obschon der sozialstrukturelle Wandel der Gesellschaft in Form von mehr Alleinlebenden, Rentnern und Immigranten nominell zu mehr Ungleichheit führt.

Ein genauer Blick auf die Einkommensentwicklung der letzten beiden Jahrzehnte bestätigt nicht das Schrumpfen der mittleren Einkommensgruppen, sondern rechtfertigt folgende Schlagzeile: "Die mittleren Einkommensgruppen werden seit der Wiedervereinigung überdurchschnittlich geschröpft und haben dementsprechend Einkommensanteile verloren."

Zur Untermauerung linker Propaganda, die Verhältnisse würden immer ungerechter, trägt ein sprachpolitischer Trick bei. Die Messlatte zur Bestimmung von Armut wird immer höher gelegt, wodurch der Anteil der vermeintlich Armen automatisch steigt. In der wissenschaftlichen Diskussion gilt als arm, wer 50 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat, und als armutsgefährdet, wer 60 Prozent hat. Anteile unter 70 Prozent werden als Niedrigeinkommen bezeichnet. In vielen Medien setzen inkompetente oder politisch motivierte Journalisten jetzt Niedrigeinkommen und Armut gleich. Nach dieser eigenwilligen Rechnung steigt die Quote der Armen plötzlich von etwa sieben auf knapp 22 Prozent.

Geradezu absurd ist die Forderung, die Wohlhabenden stärker zu besteuern, hierunter fassen die DIW-Forscher alle Personen, die mehr als knapp 2.000 Euro netto verdienen. Hierdurch würden nur die getroffen, die ohnehin die Last des sozialen Umverteilungsstaates tragen, unter ihnen viele Durchschnittsverdiener. Die wirklich Reichen können da nur lachen.


Klaus Schroeder, Sozialwissenschaftler, geboren 1949 in Lübeck, leitet an der Freien Universität Berlin den Forschungsverbund SED-Staat und die Arbeitsstelle Politik und Technik und ist Professor am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin. Letzte Veröffentlichungen: "Der SED-Staat. Partei, Staat und Gesellschaft 1949-1990", Hanser-Verlag, München 1998; "Der Preis der Einheit. Eine Bilanz", Hanser-Verlag, München 2000; "Rechtsextremismus und Jugendgewalt in Deutschland. Ein Ost-West-Vergleich", Schöningh-Verlag, Paderborn 2004. "Die veränderte Republik. Deutschland nach der Wiedervereinigung", Verlag Ernst Vögel, Stamsried 2006. "Soziales Paradies oder Stasi-Staat? Das DDR-Bild von Schülern", zus. mit Monika Deutz-Schroeder, Verlag Ernst Vögel 2008.
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