Wer hat Angst vorm Überwachungsstaat?
Als Hörer des politischen Feuilletons gehören Sie zu den an Aufklärung interessierten lesenden Klassen und kaufen sich auch mal ein Buch zum Thema Überwachungsstaat. Dort lesen Sie dann, wie der moderne Staat mühsam erkämpfte Schutzgarantien abbaut, um seine Bürger auszuspähen. Zu Recht sollte man sich da Sorgen machen über Datenschutz, Privatsphäre und die Tendenz zum gläsernen Bürger.
Aber Vorsicht! Sie schauen dabei möglicherweise in die falsche Richtung. Die Angst vor überbordender staatlicher Kontrolle konzentriert die Aufmerksamkeit auf einen engen Bereich, der im Grunde genommen vergleichsweise harmlos ist. Natürlich muss man sich als Bürger gegen jede Form von Ausdehnung der Kontrolle wehren, beherzt der Datensammelwut der Sicherheitsbehörden entgegentreten und jede Maßnahme kritisch auf ihre Notwendigkeit hin überprüfen. Aber, wenn Sie ihr Buch zum Beispiel über das Internet gekauft haben, im Buchladen mit Kreditkarte gezahlt oder gar als Besitzer einer Bonuskarte sich für den Kauf Punkte haben gut schreiben lassen, dann haben sie damit mehr Daten preisgegeben als alle Schäubles dieser Welt jemals von Ihnen verlangen werden.
In der Welt des Konsums geht der Kunde ganz ohne den Eingriff eines Großen Bruders viel lockerer mit seiner Privatsphäre und verhält sich so, wie es jeder sammelwütige Staat gerne hätte.
Das geschieht quasi nebenher, als Nebenfolge der Abwicklung von kommerziellen Transaktionen und des Einsatzes moderner Datentechnologie. Wenn Sie ihre Bestellung im Online-Shop aufgeben, dann will der erst mal ziemlich viel von Ihnen wissen und damit sind ihre Daten dort registriert. Die Bestellung wird weitergereicht an den Lieferanten, der die Ware vorrätig hat, bei dem sind Sie dann ebenfalls registriert. Und der wiederum beauftragt ein Logistikunternehmen, das ihnen die Ware zustellt. Auch die wissen dann viel über Sie. Nicht zu vergessen Ihre Bank, über die der Online-Shop die Abrechnung abwickelt. All das geschieht nicht, um Sie zu kontrollieren. Kontrolle ist praktisch ein Nebeneffekt der Strategie von Unternehmen, die ihre Geschäfte möglichst kostengünstig und reibungslos abwickeln und dabei die Kundenwünsche befriedigen wollen. Die Beispiele sind Legion.
Das Problem ist: wir werden alle per definitionem zu Verdächtigen, die sich erst einmal identifizieren müssen. Und wer sich nicht ausweisen kann, durch Pin-Codes, Kunden- oder Kreditkartennummern, Plastikkarten, Fingerabdrücke oder Iris-Scans, dem wird der Zutritt verweigert: kein Geld aus dem Automaten, keine Bestellung im Netz, keine Lieferung vom Pizzaservice. Die gute Nachricht: Es trifft alle gleichermaßen. Den Geldautomaten interessiert es nicht, ob sie unrasiert sind und nach Alkohol riechen oder in einer Rasierwasserwolke im Dreiteiler daherkommen. Er will nur den PIN-Code wissen, bevor er Geld freigibt. Die schlechte Nachricht kennen wir: jede Transaktion hinterlässt eine Spur im Datenraum und ein Fremder, der es drauf anlegt, kann mehr über Sie in Erfahrung bringen als jeder, der sie persönlich gut kennt. Und die ganz schlechte Nachricht lautet: Das Netz dieser automaten- und datengestützen Formen von Kontrolle wird immer enger, weil immer weniger Menschen an der Schnittstelle zum Kunden arbeiten.
Warum aber regen sich dann alle über Schäuble auf? Was ist so schlimm daran, wenn der Staat sich einer Technologie bedient, die in der Industrie gang und gäbe ist und das noch dazu auf einem Niveau, das jedem modernen Marketingexperten lächerlich erscheinen muss? Warum unterstellt man dem Staat, dass er Schindluder treibt, während man der Neugierde jedes Anbieters von Waren und Dienstleistungen bedenkenlos nachkommt? Vielleicht liegt es an der Fiktion der Freiwilligkeit und dem Irrglauben von der Souveränität des Konsumenten. Blauäugig geben wir preis, was wir dem Staat gerne vorenthalten würden. Wir fürchten, er könnte es für Zwecke der sozialen Diskriminierung nutzen – aber das ist nur der öffentlichrechtliche Ausdruck für das, was in der Wirtschaft Customer Relation Management heißt und dort fortlaufend praktiziert wird.
Das ist kein Votum für den allumfassenden staatlichen Zugang in unsere Betten und Flure. Es ist auch keine Rechtfertigung von erniedrigen Maßnahmen des Abfummelns auf Flughäfen und des Video-Voyeurismus im öffentlichen Raum. Es ist nur eine Aufforderung, sich bei der Diskussion über Datenschutz und Privatsphäre nicht von den Mysterienspielen der Sicherheitsfanatiker und Terrorbekämpfer aufs falsche Gleis lenken zu lassen. Der wirkliche Abbau der Privatsphäre hat schon längst stattgefunden und zwar ganz ohne staatliche Kontrolle. Wer es sich leisten kann, bleibt natürlich auch heute noch anonym, der zahlt bar, kauft die Fahrkarte für richtiges Geld zu einem höheren Preis am Bahnschalter, verweigert Kreditkarten und Mobiltelefone. Das macht das Leben teuer und aufwändig. Aber es war schon immer ein Privileg der Bessergestellten, sich mehr oder weniger diskret abschotten zu können. Alle anderen lassen sich ihre Vorlieben und Wünsche freudig und für ein paar Cent freiwillig auf ihre Kundenkarten tätowieren und ärgern sich andererseits über den Überwachungsstaat.
Dr. Reinhard Kreissl, geb. 1952, ist Soziologe und Publizist. Studium in München, Promotion in Frankfurt/Main. Habilitation an der Universität Wuppertal. Kreissl hat u. a. an den Universitäten San Diego, Berkeley und Melbourne gearbeitet. Er hat zahlreiche wissenschaftliche Publikationen verfasst und schrieb regelmäßig für das Feuilleton der "Süddeutschen Zeitung". Letzte Buchpublikation: "Die ewige Zweite. Warum die Macht den Frauen immer eine Nasenlänge voraus ist". Kreissl lebt in München und Wien.
In der Welt des Konsums geht der Kunde ganz ohne den Eingriff eines Großen Bruders viel lockerer mit seiner Privatsphäre und verhält sich so, wie es jeder sammelwütige Staat gerne hätte.
Das geschieht quasi nebenher, als Nebenfolge der Abwicklung von kommerziellen Transaktionen und des Einsatzes moderner Datentechnologie. Wenn Sie ihre Bestellung im Online-Shop aufgeben, dann will der erst mal ziemlich viel von Ihnen wissen und damit sind ihre Daten dort registriert. Die Bestellung wird weitergereicht an den Lieferanten, der die Ware vorrätig hat, bei dem sind Sie dann ebenfalls registriert. Und der wiederum beauftragt ein Logistikunternehmen, das ihnen die Ware zustellt. Auch die wissen dann viel über Sie. Nicht zu vergessen Ihre Bank, über die der Online-Shop die Abrechnung abwickelt. All das geschieht nicht, um Sie zu kontrollieren. Kontrolle ist praktisch ein Nebeneffekt der Strategie von Unternehmen, die ihre Geschäfte möglichst kostengünstig und reibungslos abwickeln und dabei die Kundenwünsche befriedigen wollen. Die Beispiele sind Legion.
Das Problem ist: wir werden alle per definitionem zu Verdächtigen, die sich erst einmal identifizieren müssen. Und wer sich nicht ausweisen kann, durch Pin-Codes, Kunden- oder Kreditkartennummern, Plastikkarten, Fingerabdrücke oder Iris-Scans, dem wird der Zutritt verweigert: kein Geld aus dem Automaten, keine Bestellung im Netz, keine Lieferung vom Pizzaservice. Die gute Nachricht: Es trifft alle gleichermaßen. Den Geldautomaten interessiert es nicht, ob sie unrasiert sind und nach Alkohol riechen oder in einer Rasierwasserwolke im Dreiteiler daherkommen. Er will nur den PIN-Code wissen, bevor er Geld freigibt. Die schlechte Nachricht kennen wir: jede Transaktion hinterlässt eine Spur im Datenraum und ein Fremder, der es drauf anlegt, kann mehr über Sie in Erfahrung bringen als jeder, der sie persönlich gut kennt. Und die ganz schlechte Nachricht lautet: Das Netz dieser automaten- und datengestützen Formen von Kontrolle wird immer enger, weil immer weniger Menschen an der Schnittstelle zum Kunden arbeiten.
Warum aber regen sich dann alle über Schäuble auf? Was ist so schlimm daran, wenn der Staat sich einer Technologie bedient, die in der Industrie gang und gäbe ist und das noch dazu auf einem Niveau, das jedem modernen Marketingexperten lächerlich erscheinen muss? Warum unterstellt man dem Staat, dass er Schindluder treibt, während man der Neugierde jedes Anbieters von Waren und Dienstleistungen bedenkenlos nachkommt? Vielleicht liegt es an der Fiktion der Freiwilligkeit und dem Irrglauben von der Souveränität des Konsumenten. Blauäugig geben wir preis, was wir dem Staat gerne vorenthalten würden. Wir fürchten, er könnte es für Zwecke der sozialen Diskriminierung nutzen – aber das ist nur der öffentlichrechtliche Ausdruck für das, was in der Wirtschaft Customer Relation Management heißt und dort fortlaufend praktiziert wird.
Das ist kein Votum für den allumfassenden staatlichen Zugang in unsere Betten und Flure. Es ist auch keine Rechtfertigung von erniedrigen Maßnahmen des Abfummelns auf Flughäfen und des Video-Voyeurismus im öffentlichen Raum. Es ist nur eine Aufforderung, sich bei der Diskussion über Datenschutz und Privatsphäre nicht von den Mysterienspielen der Sicherheitsfanatiker und Terrorbekämpfer aufs falsche Gleis lenken zu lassen. Der wirkliche Abbau der Privatsphäre hat schon längst stattgefunden und zwar ganz ohne staatliche Kontrolle. Wer es sich leisten kann, bleibt natürlich auch heute noch anonym, der zahlt bar, kauft die Fahrkarte für richtiges Geld zu einem höheren Preis am Bahnschalter, verweigert Kreditkarten und Mobiltelefone. Das macht das Leben teuer und aufwändig. Aber es war schon immer ein Privileg der Bessergestellten, sich mehr oder weniger diskret abschotten zu können. Alle anderen lassen sich ihre Vorlieben und Wünsche freudig und für ein paar Cent freiwillig auf ihre Kundenkarten tätowieren und ärgern sich andererseits über den Überwachungsstaat.
Dr. Reinhard Kreissl, geb. 1952, ist Soziologe und Publizist. Studium in München, Promotion in Frankfurt/Main. Habilitation an der Universität Wuppertal. Kreissl hat u. a. an den Universitäten San Diego, Berkeley und Melbourne gearbeitet. Er hat zahlreiche wissenschaftliche Publikationen verfasst und schrieb regelmäßig für das Feuilleton der "Süddeutschen Zeitung". Letzte Buchpublikation: "Die ewige Zweite. Warum die Macht den Frauen immer eine Nasenlänge voraus ist". Kreissl lebt in München und Wien.

Reinhard Kreissl© privat