Wer alles in der Pflicht steht
Dass Politiker Vorbilder sind, das hat schon lange keiner mehr behauptet. Selbst dass sie es sein sollten, klingt heutzutage wie normative Romantik. Aber siehe da, der goldene Herbst 2005 gibt eine neue Perspektive. Wenn nämlich die Führungsspitzen von SPD und Union vernünftige Koalitionsverhandlungen hinbekämen, dann würden sie Vorbilder werden: Im Über-den-Schatten-Springen, im Pfründe-Aufgeben, im Kompromisse-Finden, in geistiger und ideologischer Beweglichkeit, kurz, in der Mentaldisziplin Ruck, ohne die angeblich nichts läuft in Deutschland.
Es gibt hierzulande gegenwärtig äußerst peinliche Formen nationaler Selbstmotivation. In der Du-bist-Deutschland-Kampagne sagen Fernseh- und Sportprominenzen anbiedernde Weisheiten wie: Du bist die Flügel, du bist der Baum oder Unsere Zeit schmeckt nicht nach Zuckerwatte. Es ist ein schwer verdauliches Gebräu aus Esoterik, Bevormundung und verhohlener Verzweiflung.
Wenn jedoch die Volksvertreter mit den Machthebeln in der Hand nach Jahren von gegenseitiger Teil- und Vollblockade beweisen würden: es gibt kein Gesetz, das den Stillstand befiehlt, dann würde man sich davon tatsächlich atmosphärische Verbesserungen versprechen – von Sachfragen vorerst zu schweigen. Es ist ja beinahe rührend zu sehen, wie den Schwarzen und den Roten im Reden übereinander seit dem verheerenden Wahlabend der Schaum vor den Mündern schwindet; wie die zähnefletschende Verleumdung abnimmt und Aspekte politischer Kultur auf die Lippen zurückkehren.
Natürlich, schon hört man Gejammer. Die Sondierungen seien ein macht- und personalpolitisches Pokerspiel, ein Geschacher um Kabinettsposten, ein Feilschen um Karrieren, ein Vorrücken in Millimetersprüngen, ein Strategiespiel mit Blick auf die nächste Bundestagswahl. Und so ist es auch! Das Parteibuch wird in großen Koalitionen ja nicht zurückgegeben. Aber man bedenke, welcher Übung sich die Politiker unterziehen. Zum ersten Mal seit 1966 soll nicht nur die vorher anvisierte rot-gelbe, schwarz-gelbe oder rot-grüne Hochzeit geschlossen werden. Vielmehr müssen sich politische Gegner aufeinander zu bewegen, die die Bürger und sich selbst im Wahlkampf gerade noch mit grimmigen Wir-oder-der-Untergang-Szenarien genervt haben. Die Instinkte für die friedliche politische Koexistenz namens große Koalition müssen im laufenden Verfahren erst entwickelt werden – und das gilt auf für den Betrachter im Fernsehsessel.
Die Parteipolitiker haben das Entweder-Oder beschworen, sie haben das Sowohl-als-auch zum Auftrag bekommen. Die List der Vernunft, die sich im Wahlergebnis vom 18. September ausdrückt, liegt darin, dass sie der Berliner Republik die große Koalition im richtigen Augenblick aufdrängt. Die zentrifugalen Kräfte, die aus der Mitte drängen und einerseits neo-liberale Deregulierung, andererseits quasi-sozialistische Umverteilungspolitik fordern, sind auch im Fleisch der großen Parteien stärker geworden, so stark, dass sie links gleich ganz austraten, während der CDU der Arbeitnehmerflügel lahm wurde. Schwarz-rote Koalitionsverhandlungen indessen sind zentripetale Prozesse. Sie führen im günstigen Fall eine handlungsfähige Macht in der Mitte zusammen – und das kann nur bedauern, wer an Zauberformeln a la FDP "Steuern runter, Arbeit rauf" glaubt.
Das heilspolitische Phantasma vom "Neuanfang", vom "Durchregieren", und zwar "aus einem Guss", wie Angela Merkel im Vorwahlkampf tönte – es hat sich mit dem Wahlergebnis erledigt. Vielleicht hatten viele Einzelne sogar Sehnsucht danach, mal ordentlich durchregiert zu werden, als sie das Kreuzchen hier oder dort setzten. Das Gesamtergebnis in seiner Klugheit erteilt indessen die Lizenz zu weiteren Reformen, aber keineswegs zu Radikalität oder irgendeiner Einseitigkeit. Man darf also erwarten, dass sich eine große Koalition rasch auf die Föderalismus-Reform, den Abbau so mancher Subvention und arbeitsmarktpolitische Maßnahmen einigt.
Große Koalitionsverhandlungen hinter verschlossenen Türen sind für die politische Willensbildung mit Sicherheit günstiger als das fortgesetzte Tagen der Ersatzparlamente in den Talkshows, in denen Sachverstand naturgemäß dem Diktat der Unterhaltung unterliegt. Am spröden Verhandlungstisch ist für Momente jene Rückkopplungsschleife ausgeschaltet, in der sich Politiker über Medien an Wähler richten, die Medien Politiker und politische Themen aber nur unter dem Gesetz der Quote ins Programm nehmen, weshalb die Wähler womöglich Politiker wählen, die zu ihren Fernsehgewohnheiten passen. Ja, tatsächlich, man würde sich ein Weniger an Information über die Einzelheiten des Hickhacks gefallen lassen, wenn man dafür ein Mehr an brauchbaren Ergebnisse im Sinne eines modernen Sozialstaats bekäme – und nichts anderes kann Verhandlungsziel sein, auch das diktiert der 18. September.
Joschka Fischer sagte am Wahlabend: "Nun stehen wir alle in der Pflicht" – und machte sich ruckzuck aus dem Staub. Trotzdem hat er ein letztes Mal die richtige Maxime ausgegeben. Und deshalb haben wir einen Wunschtraum. In ihm tritt eine große Koalition auf, die im Jahr 2006 den Reformstau so rasch verkleinert, dass die Begeisterung von der politischen Arena auf die Ränge überschwappt. Dann soll Applaus nicht fehlen.
Arno Orzessek, geboren 1966 in Osnabrück, studierte Philosophie, Literaturwissenschaften und Kunstgeschichte in Köln. Seit 1996 schreibt er vor allem für die Süddeutsche Zeitung und für den Rundfunk. Gerade erschienen ist sein Roman "Schattauers Tocher". Orzessek lebt in Berlin.
Wenn jedoch die Volksvertreter mit den Machthebeln in der Hand nach Jahren von gegenseitiger Teil- und Vollblockade beweisen würden: es gibt kein Gesetz, das den Stillstand befiehlt, dann würde man sich davon tatsächlich atmosphärische Verbesserungen versprechen – von Sachfragen vorerst zu schweigen. Es ist ja beinahe rührend zu sehen, wie den Schwarzen und den Roten im Reden übereinander seit dem verheerenden Wahlabend der Schaum vor den Mündern schwindet; wie die zähnefletschende Verleumdung abnimmt und Aspekte politischer Kultur auf die Lippen zurückkehren.
Natürlich, schon hört man Gejammer. Die Sondierungen seien ein macht- und personalpolitisches Pokerspiel, ein Geschacher um Kabinettsposten, ein Feilschen um Karrieren, ein Vorrücken in Millimetersprüngen, ein Strategiespiel mit Blick auf die nächste Bundestagswahl. Und so ist es auch! Das Parteibuch wird in großen Koalitionen ja nicht zurückgegeben. Aber man bedenke, welcher Übung sich die Politiker unterziehen. Zum ersten Mal seit 1966 soll nicht nur die vorher anvisierte rot-gelbe, schwarz-gelbe oder rot-grüne Hochzeit geschlossen werden. Vielmehr müssen sich politische Gegner aufeinander zu bewegen, die die Bürger und sich selbst im Wahlkampf gerade noch mit grimmigen Wir-oder-der-Untergang-Szenarien genervt haben. Die Instinkte für die friedliche politische Koexistenz namens große Koalition müssen im laufenden Verfahren erst entwickelt werden – und das gilt auf für den Betrachter im Fernsehsessel.
Die Parteipolitiker haben das Entweder-Oder beschworen, sie haben das Sowohl-als-auch zum Auftrag bekommen. Die List der Vernunft, die sich im Wahlergebnis vom 18. September ausdrückt, liegt darin, dass sie der Berliner Republik die große Koalition im richtigen Augenblick aufdrängt. Die zentrifugalen Kräfte, die aus der Mitte drängen und einerseits neo-liberale Deregulierung, andererseits quasi-sozialistische Umverteilungspolitik fordern, sind auch im Fleisch der großen Parteien stärker geworden, so stark, dass sie links gleich ganz austraten, während der CDU der Arbeitnehmerflügel lahm wurde. Schwarz-rote Koalitionsverhandlungen indessen sind zentripetale Prozesse. Sie führen im günstigen Fall eine handlungsfähige Macht in der Mitte zusammen – und das kann nur bedauern, wer an Zauberformeln a la FDP "Steuern runter, Arbeit rauf" glaubt.
Das heilspolitische Phantasma vom "Neuanfang", vom "Durchregieren", und zwar "aus einem Guss", wie Angela Merkel im Vorwahlkampf tönte – es hat sich mit dem Wahlergebnis erledigt. Vielleicht hatten viele Einzelne sogar Sehnsucht danach, mal ordentlich durchregiert zu werden, als sie das Kreuzchen hier oder dort setzten. Das Gesamtergebnis in seiner Klugheit erteilt indessen die Lizenz zu weiteren Reformen, aber keineswegs zu Radikalität oder irgendeiner Einseitigkeit. Man darf also erwarten, dass sich eine große Koalition rasch auf die Föderalismus-Reform, den Abbau so mancher Subvention und arbeitsmarktpolitische Maßnahmen einigt.
Große Koalitionsverhandlungen hinter verschlossenen Türen sind für die politische Willensbildung mit Sicherheit günstiger als das fortgesetzte Tagen der Ersatzparlamente in den Talkshows, in denen Sachverstand naturgemäß dem Diktat der Unterhaltung unterliegt. Am spröden Verhandlungstisch ist für Momente jene Rückkopplungsschleife ausgeschaltet, in der sich Politiker über Medien an Wähler richten, die Medien Politiker und politische Themen aber nur unter dem Gesetz der Quote ins Programm nehmen, weshalb die Wähler womöglich Politiker wählen, die zu ihren Fernsehgewohnheiten passen. Ja, tatsächlich, man würde sich ein Weniger an Information über die Einzelheiten des Hickhacks gefallen lassen, wenn man dafür ein Mehr an brauchbaren Ergebnisse im Sinne eines modernen Sozialstaats bekäme – und nichts anderes kann Verhandlungsziel sein, auch das diktiert der 18. September.
Joschka Fischer sagte am Wahlabend: "Nun stehen wir alle in der Pflicht" – und machte sich ruckzuck aus dem Staub. Trotzdem hat er ein letztes Mal die richtige Maxime ausgegeben. Und deshalb haben wir einen Wunschtraum. In ihm tritt eine große Koalition auf, die im Jahr 2006 den Reformstau so rasch verkleinert, dass die Begeisterung von der politischen Arena auf die Ränge überschwappt. Dann soll Applaus nicht fehlen.
Arno Orzessek, geboren 1966 in Osnabrück, studierte Philosophie, Literaturwissenschaften und Kunstgeschichte in Köln. Seit 1996 schreibt er vor allem für die Süddeutsche Zeitung und für den Rundfunk. Gerade erschienen ist sein Roman "Schattauers Tocher". Orzessek lebt in Berlin.