Wenn Tote erzählen
Häufig haben russische Autoren in der letzten Zeit ein phantastisch-groteskes Szenario gewählt, um über die Gegenwart ihres Landes zu schreiben. Auch Andrej Wolos tut das in diesem Roman: Sein "Animator" arbeitet in einem seltsamen Komplex - halb wissenschaftliches Institut, halb hoch spezialisierte Beerdigungsfirma -, und zwar als Medium.
Verstorbene werden in dieses Institut gebracht, ein Angehöriger tritt als "Informant" auf, berichtet über das Leben und den Charakter des Verstorbenen, und mit Hilfe einer komplizierten technischen Anlage kann es der Animator schaffen, die "Noolumineszenz" in Gang zu setzen. Es handelt sich hierbei um eine Art von individuellem Lichtwellenausstoß, den nur der jeweils Verstorbene und nur vermittelt über den "Animator", der dafür über ein besonders ausgeprägtes Einfühlungsvermögen, "die Gabe", verfügen muss, produzieren kann. Der auf diese Weise entstehende Effekt von irisierendem Licht wird in so genannte Kraft-Kolben geleitet, wo das Leuchten offenbar ewig erhalten bleibt.
Die leuchtenden Kolben sind Ersatz für (oder Beiwerk von) Grabstätten. Da es sich um kein starres, sondern ein sich veränderndes Licht handelt, projiziert man gern den Glauben, der Tote sei doch nicht komplett tot, in dieses Licht. Es sei die Seele des Verstorbenen, die da lebendig flimmere, und so kommt es, dass die Animation sich zu einem überaus florierenden Geschäft entwickelt. Mehr noch: eine Art sozialer Zwang zur Animationsprozedur entsteht, denn schließlich muss man als Hinterbliebener seiner Umwelt demonstrieren, dass man den Aufwand, die Seele des verstorbenen Angehörigen zu retten, nicht gescheut hat.
Sergej, der "Animator" und Ich-Erzähler des Romans, ist einer der wenigen Menschen, denen "die Gabe" zuteil geworden ist, entsprechend lebt er in sehr guten finanziellen Verhältnissen. Er ist durchaus ein Zyniker, denn an den ganzen Hokuspokus um die zum Leuchten gebrachten Seelen glaubt er keineswegs. Aber da das Phänomen nun mal in der Welt ist und ausgerechnet ihn sehr gut ernährt, stellt er es auch nicht übermäßig in Frage.
Zumal er eine moralisch-philosophische Rechtfertigung durchaus parat hat: Er findet sie im Werk des radikalen und marginalen russischen Denkers Nikolai Fjodorow (1828-1903). Dessen "Philosophie der gemeinsamen Sache" läuft sage und schreibe darauf hinaus, dass die Menschheit nur zu retten sei, wenn sie es fertigbringe, die Toten zu erwecken. Diesem Ziel sei alles unterzuordnen, seien alle Anstrengungen zu widmen. Nicht um Reichtum, Macht, Eroberung und Gewalt solle man sich kümmern, sondern um die Auferweckung der Toten.
Das Absurde dieser Philosophie ist Sergej natürlich klar, aber er interpretiert sie nicht von ihrem Ende her, sondern sieht ihren Kern in jenen Mitteln, die das utopische Ziel bewerkstelligen sollen - das heißt im Verzicht auf alles negative Streben, das die Menschheit beherrscht. Seine private Übersetzung der Fjodorowschen Philosophie läuft also auf die Folgerung hinaus: Wer da viel Aufwand betreiben muss, um die Seelen seiner verstorbenen Angehörigen am Leben zu erhalten, hat keine Zeit, andere Übel anzurichten.
Aber das Leben vor der Seelenanimation schreibt dann doch eine andere Bahn vor. Die Geschichten jener Toten, die Sergej zum Animieren gebracht werden - als "Anamnesen" sind sie jedem Kapitel angehängt -, erzählen davon. Und sie erzählen von einem sehr gegenwärtigen, sehr gewalttätigen Russland an seinem problematischsten Punkt: dem Tschetschenienkonflikt. Alle Toten stehen damit im Zusammenhang: als Soldaten oder Offiziere der Russischen Armee, als Geheimdienst-Mitarbeiter, als zivile Opfer von Terroranschlägen oder islamistische Terroristen.
Praktisch unverhüllt (wenn im Roman auch immer von einem fiktiven "Katschirien" die Rede ist) fließen zahlreiche spektakuläre Ereignisse dieses Konflikts aus den vergangenen Jahren in den Roman: die Geiselnahmen in einer Schule und in einem Krankenhaus, die Bombenanschläge in Moskau, der Überfall auf ein Theater und dessen anschließende Erstürmung. Aber auch die hintergründigen Machenschaften kommen ins Spiel: die Rekrutierung der tschetschenischen "Kämpfer", die Geschäfte korrupter Offiziere, die Manipulationsversuche des Geheimdienstes und der Politik.
Überaus spannend, geradezu packend und in echter Thriller-Manier beschreibt Andrej Wolos diesen Konflikt, seine Hintergründe und Auswirkungen. Und mit nicht weniger Meisterschaft verknüpft er die beiden Ebenen dieses Romans miteinander. Wie eine sich zusammenziehende Schlinge nähert sich die Gewalt des "Katschirien"-Konflikts dem Leben des Moskauer Animators Sergej, bis sie schließlich hereinbricht, weil die Erweckung der Seelen von Toten auch bloß ein Projekt ist, das die Lebenden gern für ihre Interessen nutzbar machen würden.
Rezensiert von Gregor Ziolkowski
Andrej Wolos: Der Animator
Roman. Aus dem Russischen von Christiane Körner
Carl Hanser Verlag, München 2007
290 Seiten, 21,50 Euro.
Die leuchtenden Kolben sind Ersatz für (oder Beiwerk von) Grabstätten. Da es sich um kein starres, sondern ein sich veränderndes Licht handelt, projiziert man gern den Glauben, der Tote sei doch nicht komplett tot, in dieses Licht. Es sei die Seele des Verstorbenen, die da lebendig flimmere, und so kommt es, dass die Animation sich zu einem überaus florierenden Geschäft entwickelt. Mehr noch: eine Art sozialer Zwang zur Animationsprozedur entsteht, denn schließlich muss man als Hinterbliebener seiner Umwelt demonstrieren, dass man den Aufwand, die Seele des verstorbenen Angehörigen zu retten, nicht gescheut hat.
Sergej, der "Animator" und Ich-Erzähler des Romans, ist einer der wenigen Menschen, denen "die Gabe" zuteil geworden ist, entsprechend lebt er in sehr guten finanziellen Verhältnissen. Er ist durchaus ein Zyniker, denn an den ganzen Hokuspokus um die zum Leuchten gebrachten Seelen glaubt er keineswegs. Aber da das Phänomen nun mal in der Welt ist und ausgerechnet ihn sehr gut ernährt, stellt er es auch nicht übermäßig in Frage.
Zumal er eine moralisch-philosophische Rechtfertigung durchaus parat hat: Er findet sie im Werk des radikalen und marginalen russischen Denkers Nikolai Fjodorow (1828-1903). Dessen "Philosophie der gemeinsamen Sache" läuft sage und schreibe darauf hinaus, dass die Menschheit nur zu retten sei, wenn sie es fertigbringe, die Toten zu erwecken. Diesem Ziel sei alles unterzuordnen, seien alle Anstrengungen zu widmen. Nicht um Reichtum, Macht, Eroberung und Gewalt solle man sich kümmern, sondern um die Auferweckung der Toten.
Das Absurde dieser Philosophie ist Sergej natürlich klar, aber er interpretiert sie nicht von ihrem Ende her, sondern sieht ihren Kern in jenen Mitteln, die das utopische Ziel bewerkstelligen sollen - das heißt im Verzicht auf alles negative Streben, das die Menschheit beherrscht. Seine private Übersetzung der Fjodorowschen Philosophie läuft also auf die Folgerung hinaus: Wer da viel Aufwand betreiben muss, um die Seelen seiner verstorbenen Angehörigen am Leben zu erhalten, hat keine Zeit, andere Übel anzurichten.
Aber das Leben vor der Seelenanimation schreibt dann doch eine andere Bahn vor. Die Geschichten jener Toten, die Sergej zum Animieren gebracht werden - als "Anamnesen" sind sie jedem Kapitel angehängt -, erzählen davon. Und sie erzählen von einem sehr gegenwärtigen, sehr gewalttätigen Russland an seinem problematischsten Punkt: dem Tschetschenienkonflikt. Alle Toten stehen damit im Zusammenhang: als Soldaten oder Offiziere der Russischen Armee, als Geheimdienst-Mitarbeiter, als zivile Opfer von Terroranschlägen oder islamistische Terroristen.
Praktisch unverhüllt (wenn im Roman auch immer von einem fiktiven "Katschirien" die Rede ist) fließen zahlreiche spektakuläre Ereignisse dieses Konflikts aus den vergangenen Jahren in den Roman: die Geiselnahmen in einer Schule und in einem Krankenhaus, die Bombenanschläge in Moskau, der Überfall auf ein Theater und dessen anschließende Erstürmung. Aber auch die hintergründigen Machenschaften kommen ins Spiel: die Rekrutierung der tschetschenischen "Kämpfer", die Geschäfte korrupter Offiziere, die Manipulationsversuche des Geheimdienstes und der Politik.
Überaus spannend, geradezu packend und in echter Thriller-Manier beschreibt Andrej Wolos diesen Konflikt, seine Hintergründe und Auswirkungen. Und mit nicht weniger Meisterschaft verknüpft er die beiden Ebenen dieses Romans miteinander. Wie eine sich zusammenziehende Schlinge nähert sich die Gewalt des "Katschirien"-Konflikts dem Leben des Moskauer Animators Sergej, bis sie schließlich hereinbricht, weil die Erweckung der Seelen von Toten auch bloß ein Projekt ist, das die Lebenden gern für ihre Interessen nutzbar machen würden.
Rezensiert von Gregor Ziolkowski
Andrej Wolos: Der Animator
Roman. Aus dem Russischen von Christiane Körner
Carl Hanser Verlag, München 2007
290 Seiten, 21,50 Euro.