Wenn Staaten gehorsam sein müssen

Souveränität war schon immer ein problematischer Begriff und hat im Laufe der Jahrhunderte die verschiedensten Bedeutungen besessen, zeigt Dieter Grimm. Mit Gründung der Vereinten Nationen 1949 sei aber ein Wendepunkt erreicht, der zweifeln lässt, ob der Begriff Souveränität sich noch sinnvoll anwenden lässt.
Manche Wörter sind erst dann in aller Munde, wenn sie problematisch werden. Wenn nicht mehr klar ist, ob sie überhaupt etwas bedeuten. Und wenn ja, was.

Das Wort "Souveränität" ist ein Beispiel dafür: Im Grundgesetz kommt es überhaupt nicht vor, in den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts bis in die 80er-Jahre höchst spärlich. Erst in den 90er-Jahren begannen die Karlsruher Verfassungshüter, in großem Stil vom Topos der Souveränität Gebrauch zu machen: Das war die Zeit, als in Maastricht die Europäische Union entstand, als UNO und WTO sich als weltumspannende Rechtsordnungen entfalteten. Mit anderen Worten: Das war die Zeit, als es der Idee des souveränen Staates so richtig an den Kragen ging.

Jetzt ist, kurz vor dem Inkrafttreten des Lissabonvertrags, ein schmales Buch erschienen, das diesem Phänomen auf den Grund geht: Auf gut 120 Seiten schildert Dieter Grimm, emeritierter Staatsrechtsprofessor, ehemaliger Verfassungsrichter und langjähriger Rektor des Berliner Wissenschaftskollegs, woher der Begriff der Souveränität kommt und was es mit ihm auf sich hat.

Souveränität, so seine These, war schon immer ein problematischer Begriff und hat im Laufe der Jahrhunderte die verschiedensten Bedeutungen besessen: die in die göttliche Welt- und Rechtsordnung eingebundene Souveränität des mittelalterlichen Fürsten; die absolute, dafür territorial beschränkte Souveränität des neuzeitlichen Monarchen; das schwierige Konstrukt eines Volkes oder einer Nation als Souverän – Grimm schildert dieses Stück politischer Ideengeschichte überaus kenntnisreich und dicht, durchaus anspruchsvoll, aber stets flüssig und lesbar.

Diese historische Begriffsklärung sind aber nur Präliminarien für den eigentlichen Gegenstand des Buches: Bis dato, so Grimm, "ging es fast durchweg um die Fragen, was Souveränität ist und wer sie hat. (...) Die Zweifel erfassten aber nicht die Souveränität an sich".

Das habe sich geändert: Heute werde immer dringlicher angezweifelt, ob es überhaupt noch etwas gibt, das sich sinnvollerweise mit Souveränität bezeichnen ließe. Ob zu Recht oder nicht, das ist das eigentliche Thema dieses Buches. Den Wendepunkt datiert Grimm sehr präzise:

"Der Wendepunkt war die Gründung der Vereinten Nationen im Jahr 1945."

Mit den Vereinten Nationen war zum ersten Mal eine Organisation entstanden, die das Recht besaß, souveränen Staaten Fesseln anzulegen. Dabei blieb es nicht: Die Staaten wurden durchlässig für Recht, das sie selbst nicht gesetzt hatten – allen voran die Mitgliedsstaaten der EU, aber sie nicht allein. Menschenrechtsabkommen, Umweltabkommen, WTO – eine Vielzahl autonomer Rechtsordnungen oberhalb der Staatenebene ist entstanden, die nicht nur von den Staaten, sondern auch in den Staaten Gehorsam beanspruchen. Dass die Staaten an der Entstehung dieser Rechtsordnungen freiwillig mitwirken, so Grimm, ändert am Befund nichts:

"Mag die Preisgabe auch ein Akt der Selbstbestimmung sein, so ist ihre Folge doch Fremdbestimmung. Das übergeordnete Gebilde erlangt dadurch die Befugnis, Herrschaftsakte zu erlassen, die die Glieder binden und deren eigene Herrschaftsakte verdrängen. Wenn dies ohne die Zustimmung des betroffenen Gliedes oder sogar gegen seinen ausdrücklichen Willen geschehen darf, kommt es auf seinen eigenen Willen nicht mehr an. Er ist im traditionellen Sinn des Begriffs nicht mehr souverän."

Dieser Befund macht vielen Staatsrechtlern panische Angst. Das ist kein Wunder. Schließlich droht ihnen ihr Forschungsgegenstand abhanden zu kommen. Staatsrechtler ist auch Grimm, und deshalb ist ihm hoch anzurechnen, dass er anders als mancher seiner Kollegen der Versuchung widersteht, diese ganze Entwicklung in Bausch und Bogen für verfassungswidrig zu erklären.

Den gegenteiligen Standpunkt mancher Politikwissenschaftler macht er sich aber genauso wenig zu eigen. Grimms Buch will mitnichten als Gedenkrede am offenen Grab eines historisch erledigten Begriffes verstanden werden. Sein Autor schlägt sich weder auf die Seite der Internationalisten noch auf die der Souveränitätsverteidiger, sondern versucht sich an einem Mittelweg. Was ihm dabei vorschwebt, wird nur in Konturen sichtbar – aber die sind ziemlich aufregend. Grimm sympathisiert mit dem Gedanken, die Souveränitätskonflikte zwischen nationalem Staat und supranationaler Organisation zu nutzen, anstatt sie aufzulösen zu versuchen. Beide Seiten sollten sich wechselseitig als souverän anerkennen.

"Union und Mitgliedsstaaten sowie ihre Gerichte werden auf diese Weise zu dialogischen statt konfrontativen Austragungsformen für ihre Konflikte gezwungen (...). Wo niemand den anderen unter Berufung auf seine Souveränität übertrumpfen kann, bleibt nur die Aushandlung der gegensätzlichen Standpunkte übrig."

Souveränität, so Grimm, habe mit Selbstbestimmung, mit kollektiver Identität zu tun. Und die müsse weiter verteidigt werden – notfalls auch gegen die Macht von UNO, EU und WTO:

"Im Schutz der demokratischen Selbstbestimmung einer politisch geeinten Gesellschaft über die ihr gemäße Ordnung findet die Souveränität heute ihre wichtigste Funktion."

Eine Frage lässt Grimm freilich unbeantwortet: Wer ist das "Selbst" in dem Wort Selbstbestimmung? Gerade wir Deutschen wissen aus Erfahrung, dass unser nationales Selbst sich keineswegs von selbst versteht. Doch Grimm präsentiert keine fertigen Antworten, sondern weist nur die Richtung, wo er die Antwort vermutet. Diesem Fingerzeig nachzugehen, lohnt sich auf alle Fälle.

Besprochen von Maximilian Steinbeis

Dieter Grimm: Souveränität. Herkunft und Zukunft eines Schlüsselbegriffs
Berlin University Press 2009
135 Seiten, EUR 24,90