Wenn sich Steine in die Knie bohren

Von Rainer Schildberger · 06.08.2011
30.000 Pilger zieht es zwischen Mai und August auf die Büßerinsel Station Island. Sie liegt in einem See im menschenleeren Nordwesten Irlands. Die Frömmigkeit kennt weder Alters- noch Standesunterschiede. Abiturientinnen, Landwirte und Arbeitslose kommen ebenso wie Politiker oder geistliche Würdenträger.
Der erste Tag. Ich bin seit fünf Uhr früh auf den Beinen. Mein Ziel ist Station Island, eine winzige Insel im Lough Derg, einem See ganz im menschenleeren Nordwesten Irlands. Ich stehe am Ufer vor einem schmiedeeisernen Tor. Darauf verschnörkelte Buchstaben: "St.Patrick´s purgatory". Das Fegefeuer des heiligen Patrick. Benannt nach Irlands Nationalheiligem, der die Insel vor 1500 Jahren christianisierte.

Von Mitternacht bis zur Ankunft auf Lough Derg verzichtet der Pilger vollständig auf alle Speisen und Getränke. Wasser ausgenommen. Das Fasten dauert drei Tage. Nur einmal am Tag ist ein karges Mahl erlaubt.
Wir setzen über. Neben mir an Bord sitzt Therese Shelley, eine 38-jährige Krankenschwester aus Galway.

Therese Shelley: "Es ist der feste Entschluss, Zeit für sich selbst zu finden und die Bestätigung, dass es im Leben mehr gibt, als das Hier und Jetzt. Für mich ist es ein Beleben der Spiritualität. Nicht so sehr ein Eingestehen von Schuld, sondern die Chance, den eigenen Weg zu klären. Ein Schutzschicht zu bekommen. Auch in diesem Jahr. Es wird hart, aber ich brauche diese Schutzschicht."

Aus der Entfernung wirkt die Insel wie eine Mischung aus Internat und Alcatraz. Graue, kasernenartige Gebäude. Keine Blume, kein Busch

Auf einer Landzunge am anderen Ende der Insel ragt eine achteckige, neo-romanische Basilika ins regenschwere Grau.

Nach seiner Ankunft auf der Insel begibt sich der Pilger zur Unterkunft, zieht Schuhe und Strümpfe aus und beginnt barfuß mit dem ersten Bußgang. Drei der Bußrunden sind bis 21 Uhr zu beenden. Die Gebete sind still zu verrichten.

Mike Laughlin ist das erste Mal hier. Der 50-jährige Bauunternehmer aus Dublin hat sich viel vorgenommen.

Mike Laughlin: "Ich bin hier, um meine eigenen Erfahrungen zu machen. Ich hab' viel davon gehört, wie schwierig es sein soll und bin neugierig, ob ich das auch schaffen werde. Wenn ich hier durch bin, wäre ich gerne eine stärkere Persönlichkeit. Ich wünsche mir, dass aus mir ein besserer Mensch wird. Ob als Sohn, als Ehemann oder als Vater. Wenn man sich ein bisschen verbessern könnte, wär´s das wert gewesen."

Die Pilger kommen auf eigenes Risiko. Sie müssen mindestens 15 Jahre alt sein, ohne Krankheiten und Gebrechen und dürfen keine Gehhilfen benötigen.

Die erste Bußrunde. Vor dem verwitterten Rest des Sankt-Patrick-Kreuzes gehe ich in die Knie. Eine ungewohnte Haltung. Es geht leichter, weil es alle tun. Und im Innern aufsagen: Our father. Ein Vater unser. Hail Mary. Ave Maria. Und das apostolische Glaubensbekenntnis. I believe in the catholic church.

Dann gehen sie zum Brigitten-Kreuz an der Außenwand der Basilika, knien nieder und beten drei Vater unser, drei Ave Maria und ein Glaubensbekenntnis. Stellen sie sich anschließend mit dem Rücken zum Kreuz, breiten die Arme aus und entsagen sie dreimal den Versuchungen der Welt, des Fleisches und des Teufels. Dann gehen sie viermal rechtsherum um die Basilika und beginnen von vorn.

Worauf habe ich mich da eingelassen? Die Steine bohren sich in meine Kniescheiben. Die älteren Frauen neben mir verziehen keine Miene, harren minutenlang auf den spitzen Steinen aus. Wie schaffen die das? Ich wanke, ich rutsche, ich krieche auf allen Vieren. Barfuß im strömenden Regen. Ich habe Angst, mich zu verletzen. Ein Mann mit einem Pflaster am Fuß hilft mir auf. Joseph Duffy. Später wird er sich mir als der Bischof der Diözese vorstellen.

Joseph Duffy: "Am Anfang mochte ich das nicht, hatte gemischte Gefühle und war nicht sicher, ob es ungesund ist und ob es sich nicht gegen die guten Dinge des Lebens richtet. Doch allmählich lernte ich die Insel verstehen. Sie ist ein notwendiges Gegengift."

Ich knie am Seeufer. Ende der ersten Station nach 99 Vater Unser. 160 Ave Maria und 26 Glaubensbekenntnissen. Mein Kopf ist leer. Unfassbar. Achtmal noch soll ich diesen unerbittlichen Parcours gehen?
Später Nachmittag. Im Esssaal, einer modernen, schnörkellosen Mensa mit Blick auf den See, herrscht Hochbetrieb. Junge Mädchen, die hier anscheinend ihren Ferienjob machen, servieren trockenen Toast, harte Haferkekse und Kaffee. Die einzige Mahlzeit des Tages. Der Kaffee wärmt und auch das Stimmengewirr tut gut.
30.000 Pilger zieht es zwischen Mai und August auf die Büßerinsel. Die Frömmigkeit kennt weder Alters- noch Standesunterschiede. Abiturientinnen, Landwirte und Arbeitslose kommen ebenso wie Politiker oder geistliche Würdenträger.

Abendmesse. In der Basilika ist alles neu, glänzt im Schein von hundert Lampen. Meine Füße sind kalt. Die Knie schmerzen. 400 Menschen bekennen, Sünder zu sein.

Erleichterung bei denen, die von der Orgel verabschiedet und nach 36 Stunden Wachsein nun in den Schlaf entlassen werden. Ein Mädchen reißt stumm jubelnd die Arme hoch. Gespannte Erwartung bei uns, die wir im hellen, hohen Raum zurückbleiben müssen.

Der Priester zündet eine Kerze an. Unsere Kerze, die erst in 24 Stunden gelöscht werden wird, wenn wir schlafen gehen dürfen. Er erläutert den Sinn und den Ablauf des nächtlichen Wachens. Chance zur Selbsterkenntnis durch Selbstüberwindung. Durchhalten, aber sich nicht überfordern. Im Zweifelsfall vor die Tür gehen und frische Luft tanken. Bloß nicht einschlafen, sagt er, als wäre Einschlafen der sichere Tod.

Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts gab es auf der Insel eine stickige Höhle. In der hatten die Pilger die Nacht zuzubringen. Die Liturgie enthielt eine Art Begräbnisprozession. Den Pilgern wurde ein Requiem gesungen. Damit sollte der provisorische Tod, der Abstieg in den Hades angedeutet werden. Seit 1988 steht an dieser Stelle die geräumige, angenehm beleuchtete Basilika. In Erinnerung an das frühere Ritual, heißt der Ort nächtlicher Buße "prison chapel." Gefängniskapelle.
Mitternacht. Im Gleichschritt marschieren wir um die Kirchenbänke. Kommen auf Kommando immer wieder zum Stehen. Knien. Aufspringen. Weiterziehen.

Therese Shelley: "Muß das sein? Ist das verrückt? Das erinnert mich an Patienten im psychotischen Zustand, die immer im Kreis herumlaufen. Aber so erfährt man vielleicht morgen, am zweiten Tag - nur für fünf Minuten - eine Bewusstseinsveränderung. Etwas Großes und Neues.'"

Luftholen. Im Aufwärmraum gegenüber der Basilika, einer kargen, neonbeleuchtete Halle mit langen Bankreihen, riecht es nach feuchten Pullovern und Zigaretten. In einer Ecke kann Wasser gezapft werden. Es ist kühl und weich und schmeckt wie Honig. Einige Pilger nehmen heißes Wasser und streuen Salz und Pfeffer hinein. Die berühmte Lough-Derg-Suppe, erklärt man mir lächelnd. Der Muntermacher. Es brennt im Mund und die Kehle hinab und gibt die Illusion einer scharf gewürzten Brühe

Es geht weiter. Auf meinen Kopf prasseln Gebete. Meine Kräfte schwinden. Mehr und mehr gerate ich ins Stocken, aus dem Rhythmus. Verschlucke die Worte, verliere den Anschluss. Was suche ich hier? Ich wünschte, ich wär´ nicht gekommen.

Drei Uhr morgens. Die Aufwärmhalle ist blau vom Qualm der Zigaretten. Nur noch wenige lesen in den ausgelegten Heilsblättchen. Die Nacht ist endlos und sinnlos das Kräftemessen mit mir selbst. Eine Frau neben mir fragt: Do you know what time it is? Ich nehme die Frage kaum wahr. Der Satz zerbröselt im Ohr, setzt sich mit anderer Bedeutung wieder zusammen. Zeit, wissen Sie was das ist? Nur ein absurdes Echo im Kopf: Know do it you time what is?
Fünf Uhr morgens. Die erschöpfte Büßerherde bewegt sich langsam. Der Vorbeter peitscht uns mit lauter Stimme durchs Kirchenschiff. Ich schwanke, halte mich am Kirchengestühl fest. Ich habe genug. Ich will nicht mehr.

Bloß raus aus der Folterkammer. Sterne, Mond, Wolken? Das alles gibt es wieder. Am Seeufer schüttle ich die Litanei aus den Gliedern, tauche die Füße ins Wasser und komme langsam wieder zu mir.

Wie betäubt erlebe ich den Gottesdienst. Doch da ist auch die Spur eines neuen, eines herrlichen Gefühls: Ich habe die Nacht überstanden.

Die vorletzte, achte Station ist ein Kinderspiel. Meine Fußsohlen scheinen glattgewetzt und unverwundbar. Keine Schmerzen beim Knien auf den Steinen. Ich bin euphorisch wie lange nicht. Genieße den Triumph über Hunger und Schlaf. Die Sinne geschärft. Die Seele entschlackt.

Du bist verletzlich, schwach. Völlig erledigt. Überhaupt kein Mensch mehr. Aber offen für etwas anderes da draußen. Die nächsten zwei Stunden. Und das ist es wert.

Der zweite Tag besteht fast nur noch aus Warten, Nachdenken. Plaudern. Und Zuschauen, wie die neu angekommenen Pilger sich auf den Steinen quälen. In den Schlafsaal darf niemand. Zu groß die Versuchung, sich hinzulegen. Schließlich gibt es Kaffee und Kekse im Esssaal. Der Tag ist herum. Abendgottesdienst. Der Priester löscht unsere Kerze. Hinter der Ziellinie falle ich in mein duftendes Bett.

Mike Laughlin: "Ich hab´s überlebt. Jemand hat mir geholfen und mich geführt. Es gibt jemand da draußen für uns. Und ich denke, ich bin ihm begegnet."

Letzter Tag. Sechs Uhr morgens.

Die neunte und letzte Station zeigt sich noch einmal als das, was sie wirklich ist: ein Bußgang. Eine lange, quälende Abschiedsrunde mit zusammengebissenen Zähnen. Dann endlich wieder Schuhe an den Füßen. Ein seltsames Gefühl. Dass man überhaupt Schuhe braucht. Am Pier wartet das Boot. Es geht zurück in die Welt.
Joseph Duffy: "Ich beobachte die Leute immer, wenn sie abfahren. Sie sind sehr glücklich. Natürlich auch, weil sie abfahren. Die meisten kommen wieder, weil sie etwas gefunden haben, das etwas mit Glücklichsein zu tun hat. Einen anderen Grund wüsste ich nicht."