Wenn sich jeder selbst der Nächste ist

Vonn Klaus P. Weinert · 12.04.2006
Trotz der notwendigen Reformen, die in Deutschland umgesetzt wurden und noch werden - es sollte immer sozial gerecht zugehen, war aus den Reihen der Politik zu hören. Aber welche Chancen hat ein solches Credo, wenn eine Wirtschaft autark agiert und sich von der sozialen Verantwortung zunehmend gestört fühlt?
"Die Klassik ist natürlich die angemessene Theorie des 18. und 19. Jahrhunderts. Sie zeigte nämlich, dass das Bürgertum ein wichtiger Bestandteil der Gesellschaft war. Die Bürger waren es, die die Ersparnisse bildeten, mit denen man die arbeitenden Armen beschäftigen konnte. Die Beschäftigten schufen die Werte durch ihre Arbeitskraft. Man konnte jetzt zugleich zeigen, dass die alte Klasse, die Grundherren, faule Säcke waren. Die waren auf den Schlössern und verprassten dort die Einkünfte aus ihrer Rente und taten nichts für die Wohlfahrt."

"Die bürgerliche Klasse bekam viel mehr Einfluss mit dieser Theorie, und sie konnten damit durchsetzen, dass Institutionen geschaffen wurden, die der Produktion von Gütern vorteilhaft waren."

Professor Hans-Joachim Stadermann von der Fachhochschule für Wirtschaft in Berlin.

Arbeiten und fleißig sein, das zeichnet das Bürgertum aus. Müßig auf einem Landsitz die Zeit zu verbringen, Feste zu feiern, passte nicht mehr in eine Vorstellungswelt, die seit dem 19. Jahrhundert das kapitalistische Bild vom Menschen und seiner Ökonomie immer nachhaltiger prägt. Die moderne, neue Wirtschaft ersetzte die alte Ordnung des Feudalismus durch Institutionen, die den Bedürfnissen der neuen Produktionsweise entsprachen. Vordem nie da gewesene Produkte wurden geschaffen. Und mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch vom Jahr 1900 schufen die Bürger die rechtliche Grundlage für die neue Welt der Ökonomie.

Das Gesetzbuch legte fest, welche Freiheiten, Rechte, Pflichten und Risiken die Menschen im Verhältnis zueinander haben. Es gewährte Privatautonomie, die Freiheit des einzelnen, seine Rechtsbeziehungen zu anderen in Selbstverantwortung zu regeln. Und die Vertragsfreiheit öffnete neue Wege wirtschaftlicher Betätigungen bei der neuen Klasse der Bürger, die Sinnbild wurden für die neue kapitalistische Welt.

Der Soziologe Max Weber entdeckte einen neuen Inhalt der Arbeit. In seiner protestantischen Ethik beschrieb er die wachsende Verrationalisierung des Lebens, die den Menschen disziplinierte; Arbeit wurde zu ständiger Leistung geformt, unabhängig von den Jahreszeiten, in der Zeit mal Arbeit den Output bestimmte. Der tätige und rastlose Mensch wurde zum Inbegriff der neuen Zeit, der Unternehmer zu seinem hervorgehobenen Bild, der mit seinen Maschinen und Fabriken die Städte und den Alltag veränderte wie nie zuvor.

Der Arbeiter spielte in dieser Sicht der neuen Welt kaum mehr eine Rolle. Hatte sich Karl Marx noch mit dem Los der Arbeiterschaft und ihrer Abhängigkeiten auseinandergesetzt, rückten in der Wissenschaft die Funktionsweisen der Wirtschaft in den Mittelpunkt der Forschung. Die Ökonomie wurde mehr und mehr als ein unabhängiges System gesehen, dessen Funktionsweise zu ergründen war, die unabhängig von gesellschaftlichen Bedingungen zu funktionieren schien, ähnlich den Naturwissenschaften. Erst wenn man diesen Gesetzmäßigkeiten ihren Lauf ließe, stiftete die Wirtschaft Nutzen für alle.

Von den Verheißungen eines goldenen Zeitalters profitierten jedoch nicht alle Menschen. Wirtschaftskrisen trafen auch damals schon die Armen, wie 1929. Krisen verlangten nach Interpretation. Der Wirtschaftswissenschaftler Wilhelm Röpke, später einer der geistigen Väter des Wirtschaftswunders in Deutschland, begründete diese nicht nur ökonomisch. Hans Jörg Hennecke, Historiker an der Universität Duisburg:

"Der Unterschied war, dass Wilhelm Röpke das Wirtschaftsleben nicht als etwas Isoliertes betrachtet hat, sondern das Wirtschaftsgeschehen als Bestandteil einer Kultur begriffen hat, das heißt, in der Zeitsituation, in der er war, in den 20er, 30er, 40er Jahren hat er die Weltwirtschaftskrise etwa des Jahres 1929 begriffen als eine kulturelle und moralische Krise des Abendlandes. Er hat immer versucht, die ökonomischen Ausprägungen der Krise auf ihre sozialen und kulturellen und moralischen Ursachen hin zu erklären."

Röpkes Bild der Ökonomie war das Bild eines Menschen, der von Geschichte und Kultur beeinflusst wird und vor diesem Hintergrund Wirtschaft formt. Das war auch das Verständnis von Ludwig Erhard, dem Vater der sozialen Marktwirtschaft. Im Juni 1967 hielt er eine Gedenkrede für Wilhelm Röpke, der 1966 gestorben war. Darin formulierte er:

"Es mindert nicht den Rang Röpkes, sondern es erhöht ihn in meinen Augen, wenn er aus einer philosophisch-religiösen Schau nicht an die Rechenhaftigkeit des menschlichen Lebens glaubte, wenn er das gesellschaftliche Leben in seiner schicksalhaften Gestaltung und Ausrichtung nicht für 'machbar' erachtete."

Tiefer kann der Graben nicht sein zu den heutigen Äußerungen mancher Ökonomen, die Wirtschaft oft losgelöst von Kultur und Geschichte beschreiben. Röpke hatte immer wieder die damaligen Ökonomen kritisiert, die, wie er meinte, über der Integralrechnung die gesellschaftliche Wirklichkeit vergessen würden. Röpke hatte wie Ludwig Erhard begriffen, dass der Staat eine Gestaltungsaufgabe hat, dass das Bild der Wirtschaft geprägt sein muss von einem Rahmen und Spielregeln für fairen Wettbewerb, die nicht ohne historische Basis funktionierten.

Die Geschichte der totalitären Regime der Sowjetunion und des Faschismus bildeten den Erfahrungshintergrund von Ludwig Erhard. Die Wirklichkeit der Menschen musste sich den ideologischen und theoretischen Konzepten der Partei oder des Führers anpassen, es blieb kein Spielraum für eigene Initiativen. Daher kam bei Erhard auch die Skepsis, dass alles und jedes in einer Gesellschaft geplant und organisiert werden könne.
Horst Friedrich Wünsche – Geschäftsführer der Ludwig-Erhard-Stiftung, der noch selbst von Ludwig Erhard eingestellt wurde:

"Erhard hatte eine sehr spezifische Vorstellung von Freiheit. Er hat praktisch Freiheit sozialpsychologisch interpretiert und hat gesehen, dass Menschen eigentlich nicht einen Willen zur Freiheit haben, einen originären Willen, bei den normalen Menschen ist das Bewusstsein, dass man mit Freiheit auch ein bestimmtes Risiko nimmt: man strebt sehr viel stärker nach Sicherheit. Und da man nicht sagen kann, dass Freiheit ein originäres Ziel des Menschen ist, dann muss ich auch eine freiheitliche Politik auch anders legitimieren, das schlägt sich bei Erhard nieder in dem Bewusstsein, dass wir mit sozialer Marktwirtschaft Wohlstand für alle brauchen."

Ludwig Erhard war überzeugt, dass die Sicherheit und Zufriedenheit der Menschen nicht durch kollektive Zwangssysteme zu erreichen ist. Aus eigener Erfahrung wusste er, wie der Nationalsozialismus die Wirtschaft Deutschlands zugrunde gerichtet hatte, und er sah, dass jeder einzelne, der nur dem Staat vertraute, auch zur Geisel des Staates werden kann.

Soziale Marktwirtschaft sollte jeden in die Lage versetzen, selbst seinen Lebensunterhalt zu verdienen, sein Leben nach seinen Vorstellungen zu gestalten. Ludwig Erhard war sich bewusst, dass er diese historische Chance hatte. Für ihn war aber auch klar, dass eine freie Wirtschaft nur garantiert werden kann durch einen Staat, der diese Ordnung auch verteidigt und sie gegenüber den Interessenvertretern durchsetzt. Professor Hans-Joachim Stadermann:

"Es stellte sich nicht die Frage, was man produzieren muss, sondern es war völlig klar, was die Menschen wollten: Es waren die gleichen Güter, die in den 20er Jahren auch produziert wurden; und das konnte auf diese Art und Weise, wie das Ludwig Erhard betrieben hat, perfekt gemacht werden. Das ist eine geniale Leistung. Das ist nämlich nicht Neoklassik, was da passiert, sondern es geht darum, dass eine Wirtschaftspolitik Institutionen schafft, innerhalb deren sicher gewirtschaftet werden kann. Das war nicht Neoliberalismus. Es ging darum, eine Wirtschaftsordnung zu schaffen, innerhalb derer Verträge sicher abgewickelt werden konnten. Investitionen sicher geplant werden konnten."

Die konjunkturelle Entwicklung schien nach 1945 für die Deutschen im Westen keine Grenzen mehr zu kennen. Die Wirtschaft wuchs und wuchs, der Wohlstand auch. Wer arbeiten konnte und wollte, fand immer einen Arbeitsplatz. Schließlich mussten in den 60er Jahren wegen der anhaltenden guten Entwicklung systematisch Arbeiter aus dem Ausland angeworben werden. Arbeitslosigkeit war kein Thema der Öffentlichkeit.

Das Menschenbild jener Zeit rückte erneut den Unternehmer in den Mittelpunkt, wie auch in Fernsehserien der 60er Jahren im Westen zu sehen war. Es war das Bild eines fürsorgenden Chefs, der seine Angestellten behandelte wie seine Familie. Profitstreben und Reichtum standen nicht im Vordergrund dieser Familienunternehmen, die vor allem das Bild des Unternehmers prägten.

"Für unsere Analyse des Menschenbildes ist hierbei wichtig, dass der dynamische Unternehmer aus dem Nichts heraus Dinge zusammenführen muß. Das bedeutet, dass er kein enges ökonomisches Kalkül präferieren darf, sondern, dass er vor allem die soziale Fähigkeit braucht, die Neurungen plausibel zu machen. Er braucht Risikobereitschaft und Charisma. Initiative, Autorität und Voraussicht beschreiben außerdem den neuen Typus."

So fasst der Ökonom Helmut Woll die Merkmale des Unternehmers zusammen, wie sie der verstorbene Wirtschaftswissenschaftler Alois Schumpeter verstanden hat.

Die Zeit der 50er und 60er Jahre war eine Zeit der Unternehmensgründungen, die oft aus kleinen Anfängen manchmal zu bedeutenden Firmen wurden, wie bei Gerhard Kirschey, der heute mit seiner Firma Centa Weltmarktführer für Industriekupplungen ist und mit der Erfindung eines Getriebes angefangen hat:

"Ich war freiberuflich tätig, um diese Erfindung weiterzuentwickeln und das ging mehrere Jahre, bis ich dann eine weitere Entwicklung gemacht habe mit einer befreundeten Firma aus Holland, und als diese Entwicklung marktreif war, kam die Frage auf: Wer übernimmt den Vertrieb in Deutschland? Die holländische Firma hatte zu diesem Zeitpunkt keine geeignete Vertriebsorganisation. Und dann sagte ich: Dann mach ich es selbst. Das war der Auslöser, eine eigene Firma zu gründen. Und kurze Zeit später hatte ich weitere Ideen, unabhängig von dieser holländischen Firma, und dann habe ich angefangen mit eigener Produktion in Deutschland. Es war immer von Anfang an meine Politik, die Komponenten möglichst von Vorlieferanten fertigen zu lassen, möglichst wenig Fertigungstiefe zu haben. Dadurch war es möglich, als relativ kleine Firma und mit begrenzten Kapitaleinsatz überhaupt eine Firma zu starten, weil ich nicht viel investieren musste in Maschinen."

Der Unternehmer wurde im Westen lange als Garant des wirtschaftlichen Aufschwungs gesehen. Arbeitgeber und Arbeitnehmer verstanden sich kaum als Kontrahenten. Die Unternehmer standen nicht in der Kritik. Ihre Arbeitsleistung genoss Ansehen bei den Menschen. Sie stellten die Arbeit zur Verfügung, damit die Menschen ihre Bedürfnisse befriedigen konnten: Autos, Kühlschränke, Radio und Fernsehen, bald auch Urlaub in Italien und Spanien. Wohlstand für Alle, wie es Ludwig Erhard prophezeit hatte, rückte in greifbare Nähe.

Kollektive Entscheidungen und lenkender staatlicher Einfluss spielten im Westen Deutschlands nach 1945 fast 20 Jahre kaum eine Rolle. Der Glaube an staatliche und kollektive Entscheidungen prägte aber vor allem die sozialistischen Staaten im Osten Europas, natürlich auch die DDR, die in den 70er Jahren mehr und mehr den Anschluss an den Westen verlor.

Selbst die Neue Ökonomische Politik, die in den 60er Jahren beschlossen wurde, hatte daran nichts geändert. Die Enteignungen Anfang der 70er Jahre verhinderten schließlich alle Initiativen der Unternehmer, die bald keine Rolle mehr in der DDR spielten, was sich 1990 als großes Problem erweisen sollte.

Die Wirtschaft der DDR war gekennzeichnet durch das Unvermögen des Staates, Arbeitern eigene Initiativen außerhalb des Kollektivs zu erlauben Staat und Kollektive bestimmten die Produktion der Kombinate und volkseigenen Betriebe. Für unternehmerische Ideen, wie sie Menschen im Westen hatten und die oft auch zu Unternehmensgründungen führten und damit zu mehr Wachstum und zu mehr Arbeitsplätzen, ließ diese Ordnungspolitik der Zentralwirtschaft keinen Spielraum,

Aber auch im Westen Deutschlands setzte sich nach und nach das Bild eines durch den Staat unterstützen Menschen durch, der aktiven Einfluss auf das Wirtschaftsgeschehen ausüben sollte, vor allem als die Turbulenzen der Weltwirtschaft in den 70er Jahren zunahmen. Vorbilder waren die Vereinigten Staaten, die mit dem New Deal von Präsident Roosevelt staatliche Programme zur Erholung der Wirtschaft nach der Krise von 1929 erfolgreich einsetzten.

Wissenschaftliches Vorbild war John Maynard Keynes, der englische Ökonom, der eine Wende im wirtschaftswissenschaftlichen Denken brachte, die auch als Revolution bezeichnet wurde. Er erkannte nicht nur, dass die Wirtschaft durch psychologische Faktoren bestimmt wird, Menschen nicht immer nach rationalen Vorgaben handeln, wie es die Klassik beschrieben hat.

Er sah auch, dass Anpassungsprozesse wie Lohn- und Preisänderungen im Hinblick auf die Arbeitsnachfrage langsam und nicht plötzlich stattfanden, was sich negativ auf die Wirtschaft auswirken konnte, zum Beispiel durch höhere Arbeitslosigkeit. Er war der Meinung, dass ein starker, eingreifender Staat diese Angleichung manchmal selbst durchführen musste, weshalb er in die Nähe des italienischen und deutschen Faschismus rückte. Helmut Woll beschreibt Keynes’ Menschenbild der Ökonomie folgendermaßen:

"Er sieht einerseits das menschliche Verhalten sehr stark geprägt von rationalistisch-spekulativen Motiven. Die Unternehmen entscheiden sich zwischen der Anlage ihres Geldes auf dem Kapitalmarkt und der Investition, die Verbraucher spekulieren zwischen Konsum und Sparen. Die Nachfrage nach einem Gut hängt also nicht, wie die Klassik behauptet, vom Preis und dem Nutzen des jeweiligen Gutes ab, sondern ist verknüpft mit den Relationen auf einem anderen Markt."

Das ist der Kapitalmarkt, dem Keynes eine wichtige Funktion zugesteht. Wer zum Beispiel Geld auf dem Kapitalmarkt anlegt, beeinflusst dadurch auch die Preise auf den Märkten für Waren, verhindert unter Umständen auch Investitionen in Maschinen oder Gebäuden und hofft auf hohe Renditen.

"Andererseits führt Keynes das nichtrationale, zweckfreie Denken in die Ökonomie ein. Es sollen zur Stärkung der Nachfrage zum Beispiel Pyramiden gebaut werden."

Hinter diesen zweckfreien Bauten steckt die Vorstellung, dass eine staatliche Ausgabenpolitik zu Multiplikatoreffekten führt, die dann die Branchen der Wirtschaft stimuliert und das Wachstum in Schwung bringt.

Beide Vorschläge Keynes’ prägen noch heute die wirtschaftspolitische Diskussion, insbesondere staatliche Programme werden oft als letzte Möglichkeit gesehen, die Wirtschaft wieder anzukurbeln.

Es ist das Bild einer Ökonomie, in der der Staat aktiv auftritt, der in die Wirtschaft auch lenkend eingreift. Der Staat wird – zumindest für gewisse Zeit - als effizienter eingeschätzt als die Leistungen der Unternehmer, der Arbeiter und des Marktes.

Die Ausgabenpolitik des Staates bekommt daher einen wichtigen Stellenwert. Allerdings wird durch diese Stimulation des Staates ein Effekt häufig vernachlässigt, der eine ähnliche negative Seite hat wie die klassische Vorstellung der Lohnsenkung. Professor Hans-Joachim Stadermann:

"Der Unterschied zwischen Keynes und der Neoklassik ist ganz einfach. Bei der Neoklassik ist es, den Lohn zu senken, damit mehr Beschäftigung entstehen kann und bei Keynes ist die Lohnsenkung die Folge der Beschäftigungspolitik. Denn er beschäftigt ja die Arbeit unproduktiv, sie bringt kein Produkt hervor. Das heißt, dass mehr Arbeiter Lohn bekommen, aber das Produkt nicht wächst, und das heißt, dass man mit gegebenen Lohn sich eine kleinere Gütermenge teilen muss und dass also der Lohn gesenkt wird. Und das ist etwas, dass für die Entwicklung der Wirtschaft verheerend ist. Die Erwartung sinkender Preise, sinkender Löhne ist etwas, was Investitionen verhindert. Wer investiert, will seine Güter in einem Markt verkaufen, in dem die Preise in Zukunft steigen, und wenn die Einkommen in Zukunft sinken, dann führt das dazu, dass die Ertragserwartungen sinken und das führt zu Stagnation."

Menschenbilder der Ökonomie sind immer auch Bilder der Ökonomie und der handelnden Menschen, die Auswirkungen auf die reale Wirtschaft haben. Der Glaube an den Staat hat die Vorstellungen der Menschen gefördert, dem Staat mehr zu trauen als der eigenen Initiative. Indem der Staat in Westdeutschland seit den 60er Jahren immer mehr in die Wirtschaft lenkend eingriff, stiegen auch seine Ausgaben und damit auch seine Schulden, ohne dass er drängende Probleme wie die Arbeitslosigkeit dauerhaft lösen konnte. So stiegen auch die Sozialausgaben um das fünffache seit den 60er Jahren.

Das wirkte sich natürlich auf das Nationaleinkommen aus und dadurch auch auf das Wachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen. Als die Deutsche Einheit 1989/90 in greifbare Nähe rückte, war es wieder der Staat, die Regierung unter Helmut Kohl, die "Blühende Landschaften" mit staatlichem Interventionismus in wenigen Jahren herbeiführen wollte. Der Zeithistoriker Hans Jörg Hennecke:

"Was man feststellen kann, dass 1989/90 die alte Bundesrepublik ihre Erfolgsprinzipien, die Erhard gesetzt hat, vergessen hat. Das heißt, eine ordnungspolitisch klare Vorstellung der sozialen Marktwirtschaft war nur noch in Ansätzen vorhanden. Wir haben eine ganze Reihe von Fehlentwicklungen gehabt, die sich aufgebaut haben. Es ist eigentlich nicht gelungen, 1990, bei der Wiedervereinigung, eine Wiederbelebung der sozialen Marktwirtschaft zu formulieren. Man hat den reformbedürftigen Zustand der alten Bundesrepublik gewissermaßen erweitert, auf die neuen Bundesländer übertragen, ohne dass man diesen Zeitpunkt genutzt hätte, um auch Strukturreformen durchzuführen, die für beide Teile Deutschlands notwendig und hilfreich gewesen wären. Diese Debatte tauchte dann erst Mitte der 90erJahre auf unter de Überschrift Standortdebatte. Die zaghaften Versuche, die die Regierung Kohl zum Ende unternommen hat, haben das Vertrauen nicht einwerben können. Da war ein großes Misstrauen da."

Die Regierung Helmut Kohl glaubte zu lange, dass sie mit staatlichen Transfers die Wirtschaft in Ostdeutschland in Schwung bringen könnte. Die Menschen hingen dem Bild einer Ökonomie an, die alleine durch die D-Mark den Erfolg auch in den Osten Deutschlands tragen würde. Zwei unterschiedliche Weltbilder trafen aufeinander: der Staat als Garant von Einkommen und die Bundesrepublik, die wesentlich vom Markt gelenkt wurde, der letztlich das Einkommen der Menschen garantierte.
Die Menschen waren kein "homo collectivus" mehr, eingebunden in ein Ganzes, das dem einzelnen kaum Entscheidungsfreiheit wohl aber etwas Sicherheit gab. Nun wurde der "homo oeconomicus", der selbständig handelnde, seine Möglichkeiten abschätzende und nach seinem Vorteil strebende Mensch das neue Leitbild auch für die ehemaligen DDR-Bürger. Jeder wurde sich selbst der nächste und musste sich zurechtfinden mit den neuen Interessen und Forderungen der Unternehmen, die nur einstellten, wer ihre Leistungsvorstellungen erfüllte.

Die Idylle einer sich langsam und gemütlich entwickelten Wirtschaft wich dem Druck immer besser und rationeller zu produzieren. Das Bild eines ökonomischen Menschen beherrscht so immer mehr die tägliche Arbeitswelt, der sich dem permanenten Stress aussetzt und ständig nach Möglichkeiten sucht, dem Markt seinen Lohn abzutrotzen.

Diese Entwicklung zeichnete sich seit den 70er Jahren auch im Westen ab, wie Gerhard Kirschey von der Firma Centa weiß:

"Ganz allgemein gesprochen war zu der Zeit das Geschäftsleben noch viel leichter, angenehmer, nicht so hart, der Preisdruck war nicht so extrem. Es wurde auch das persönliche Engagement, das Ausarbeiten von Vorschlägen, mehr honoriert. Pauschal kann man sagen: zu der Zeit hatten die Ingenieure bei den Kunden noch mehr Einfluss... Die Entscheidung: welches Produkt, wurde mehr von den Konstrukteuren getroffen. Heute werden die Entscheidungen viel mehr vom Einkauf getroffen, von Nicht-Ingenieuren. Heute steht der Preis viel mehr im Vordergrund, und die persönlichen Beziehungen und Wünsche der Techniker sind in den Hintergrund getreten."

Preise und Renditen prägen in einem umgekehrten Verhältnis die heutige Ökonomie. Preise sollen niedrig sein, Renditen möglichst hoch. Wer seine Produkte verkaufen möchte, kann nicht nur mit Qualität argumentieren, der Kunde, ob in Deutschland oder im Ausland, fordert preiswerte Produkte, da er wieder selbst unter Druck ist, seine Dienstleistungen und Waren günstig anzubieten.

Und der Aktionär und Investor will Geld, möglichst viel Geld für seine Investition, was zu einem scharfen Kostendruck führt, der aber schon längst durch die Globalisierung in Gang gesetzt wurde und nicht mehr aufzuhalten ist. Das Bild des arbeitenden Menschen ist mehr und mehr von einer Ökonomie geprägt, die nur noch zwei Seiten derselben Medaille kennt: Preise zu reduzieren - das heißt oft auch den Lohn - und Renditen zu erhöhen.

Es ist aber auch das Bild eines Menschen, der von der Illusion Abschied nehmen muss, die Wirtschaft so zu regeln, dass er in einem geschützten Raum Wohlstand erwerben kann. Zwar trieben selbst die Kaufleute im Mittelalter oder schon zu Zeiten des Römischen Reiches Handel in aller Welt. Die Qualität ist heute aber eine andere. Professor Hans-Joachim Stadermann:

"Jede Zeit neigt dazu, die ihre für ganz Besonders zu halten. Ich glaube, dass Wirtschaft schon immer Weltwirtschaft war und dass nur die Welt für uns größer geworden ist und dass die Technik, mit der wir sie bewirtschaften, sich natürlich geändert hat. Und das was uns heute bedrängt, ist, dass die Informationsgeschwindigkeit rasant zugenommen hat, also Echtzeitentscheidungen treffen können, Börsenentscheidungen in Tokio, in London und Frankfurt zur gleichen Zeit ablaufen lassen können, was früher unmöglich war - und der dramatische Verfall der Transportkosten. Sie müssen sehen, dass diese beiden Dinge erlaubt haben, dass die Produktion in Scheibchen verlegt werden kann, dass jedes beliebige Einzelteil an einen beliebigen Ort der Welt produziert werden kann. Und das war früher so nicht der Fall, so dass früher die Menschen mit ihren Produkten auf dem Weltmarkt konkurrierten, während sie heute mit ihrer Beschäftigung direkt konkurrieren. Und das bedroht sie natürlich mehr, als das vorher der Fall war."

Das Menschenbild, das sich heute in der Ökonomie zu entwickeln beginnt, ist das Menschenbild eines weltweit konkurrierenden Arbeitnehmers. Nur noch wenige Branchen, Beamte, der öffentliche Dienst, nur nationale operierende Firmen sind noch in der Lage, lediglich den deutschen Markt im Blick zu haben. Aber auch sie sind längst indirekt abhängig von den weltweiten Zwängen der Wirtschaft. Und Firmen, die wachsen wollen, dürfen die ausländischen Märkte nicht aus dem Blick verlieren; neue Märkte zu erobern ist unverzichtbar geworden.

Möglicherweise zeichnet sich eine neue Form der Wirtschaft ab, wie im 19. Jahrhundert, als die Industrialisierung dem Agrarstaat auch in Deutschland den Garaus machte und die Menschen sich mit schmerzhaften Anpassungsprozessen auf diese neue Welt einstellen mussten. Bauern und Landarbeiter strömten in die Städte, um dort nicht weniger harte körperliche Arbeit in den großen Fabriken zu leisten.

Gerade diese körperliche Arbeit ist heute immer weniger gefragt. Arbeit, die man in wenigen Stunden oder Tagen lernen kann, ist Arbeit im Rohzustand, keine veredelte Arbeit und daher von jedermann auszuführen und deswegen auch schlecht bezahlt oder gar nicht.

Schon prognostiziert der US-amerikanische Wissenschaftler Ray Kurzweil, dass in wenigen Jahrzehnten Roboter fast alle Handarbeit übernehmen werden, die wir Menschen heute machen. Körperliche Arbeit wird dann noch mehr entwertet, und wenn die Vorhersage stimmt, wird sie zum Leben nicht mehr ausreichen. Schon heute stellen Maschinen die wichtigsten Bauteile der Mikrochips her, die kaum mehr als ein paar Cent kosten, die Programmierung der Maschinen oder das Design eines Chips verschlingt dagegen oftmals mehrere Millionen.

Immer mehr Handarbeiter verlieren daher ihren Job, weil ihre Arbeit zu teuer geworden ist. Als Ausweg scheint nur noch die Absenkung der Löhne der richtige Weg zu sein, ein Billiglohnsektor, wie er häufig gefordert wird. Ob er Arbeit garantieren kann? Hans-Joachim Stadermann, Wirtschaftsprofessor aus Berlin:

"Es ist ja gerade der Fehler, den wir machen: Wir schrumpfen uns nach unten. Erfolgreiche Wirtschaftspolitik haben wir immer betrieben, wenn wir das hatten, was ich den Nominallohnanker nenne, das heißt: Nominallöhne dürfen nicht sinken. Wenn Nominallöhne sinken, dann bedeutet das, dass Unternehmen ihre Anstrengungen um technischen Fortschritt schleifen lassen, weil sie ihre Wettbewerbsfähigkeit in Zukunft dadurch herstellen können, weil sie weitere Lohnrunden einläuten und den Lohn weiter absenken. In einer Gesellschaft, in der der Nominallohnanker fixiert ist, besteht diese Möglichkeit nicht und die erfolgreichen Unternehmen müssen über technischen Fortschritt ihre Wettbewerbsfähigkeit herstellen, und das ist das Geheimnis des Erfolgs."

In der Politik herrscht derzeit kein klares Bild vor, welche Rolle der Mensch in der Ökonomie genau einnehmen soll. Die hektischen Reformen zeigen nur, dass eine Idee von Wirtschaft fehlt, dass die Politik schon längst den Roten Faden verloren hat. So sind die Ich-AGs nur der Ausdruck von Hilflosigkeit. Die Last der Anpassung und die Lösung der Wirtschaftsprobleme werden vom Staat auf den einzelnen verschoben, der sich letztendlich selbst der nächste ist.

Fordern und Fördern ist zwar das Signum der neuen Arbeitsmarktgesetze, in der Praxis bleibt davon aber meist nur das Fordern übrig. Der Arbeitslose ist den Gesetzen des Staates und den Forderungen der Wirtschaft mehr und mehr ausgeliefert. Der Staat scheint fast in Personalunion mit der Wirtschaft aufzutreten.
Horst Friedrich Wünsche zu Ludwig Erhards Meinung über die Rolle des Staates:

"Er hat schon 1949 geschrieben, dass ein Staat, der sich mit der Wirtschaft verbündet und Wirtschaftsinteressen durchsetzen möchte - Globalisierung ist ja so ein Staat, bei der Wirtschaft und Politik zusammenarbeiten - eine unternehmerische Planwirtschaft ist, keine soziale Marktwirtschaft. Unternehmerische Planwirtschaft unterscheidet sich von staatlicher Planwirtschaft überhaupt nicht, prinzipiell nicht, funktionell nicht. Es geht immer darum, den Wettbewerb auszuschalten und ihn für eigene Zwecke zu aktivieren. Ein starker Staat in Erhardschen Sinne bedeutet ein Staat, der dafür sorgt, dass alle gleichermaßen teilhaben können, dass keiner durch Macht vom Wirtschaftsgeschehen ausgeschlossen wird."

Mindestens fünf Millionen Menschen sind derzeit vom Wirtschaftsgeschehen ausgeschlossen. Aus den Berichten der Monopolkommission, die eine wachsende Konzentration der Wirtschaft durch den Einfluss der Konzernzentralen auf ihre Tochterunternehmen bestätigen, lässt sich herauslesen, dass eine freie Marktwirtschaft, wie sie sich Ludwig Erhard vorgestellt hat, schon zerbröckelt.

Das Bild eines freien Menschen, der in Selbstverantwortung seiner Berufung folgen kann, ist heute Illusion. Es ist dem Streben geopfert worden, Rendite zu erwirtschaften. Die Skandale in der Wirtschaft beweisen, dass dies häufig mit allen Mitteln geschieht, und nicht mehr nur mit marktwirtschaftlichen, auch mit politischer Einflussnahme.

Der einzelne ist dieser Jagd nach Geld ausgeliefert, oder er passt sich an. Das Bild des Menschen in der heutigen Ökonomie droht so zu einem blutleeren Menschenbild zu schrumpfen, wo der Mensch nur noch eine mathematische Funktion hoher Renditen und des Profit ist.