Wenn niemand trauert

Von Michael Hollenbach · 29.01.2011
Verstorbene, die keine Angehörigen oder Freunde mehr haben, landen als Sozialfall beim Ordnungsamt. Die Bestattung soll möglichst nichts kosten. In einer schmucklosen Metallurne werden sie beerdigt.
Der städtische Friedhof Am Junkerberg in Göttingen. Nach der Trauerandacht schreiten zwölf Männer schweigend hinter einem Wagen her, auf dem fünf Urnen liegen. Urnen von Menschen, um die sich nach deren Tod niemand gekümmert hat. Am Grab spricht Pastor Rudolf Grote ein kurzes Gebet.

Dann, während der Pfarrer die Namen der Toten verliest, werden die schmucklosen, schwarzen Metallurnen in ein gemeinsames Grab hinabgelassen. Die zwölf Männer – Tobiasbrüder nennen sie sich – gehen zum Grab und werfen Erde und Blütenblätter auf die Urnen. Sie nehmen Abschied von Menschen, die keine Angehörigen mehr hatten; Menschen, die allein und einsam gestorben sind, die ohne die Tobiasbrüder sang- und klanglos anonym verscharrt worden wären.

Auf einer Stele neben dem Grab – gestiftet von der Bruderschaft - werden später die Namen der Verstorbenen in eine Metallplatte eingeritzt. Harald Storz, Pastor einer Göttinger Innenstadtgemeinde, gehört zu den Gründern der Bruderschaft:

"Die Tobiasbruderschaft ist ein Versuch zu reagieren auf die Situation, dass es in der Stadt Göttingen jedes Jahr ungefähr 50 bis 70 Beerdigungen gibt, Leichenentsorgungen von Menschen, für die niemand zuständig ist, und deswegen muss im Rahmen des Seuchenbekämpfungsgesetzes das Ordnungsamt an dieser Stelle einschreiten."

Die Kommune kümmert sich um die so genannten "herrenlosen Leichen", weil es in Deutschland eine Beisetzungspflicht gibt. Seit die Krankenkassen das Sterbegeld vor sechs Jahren abgeschafft haben, ist die Zahl dieser Armenbestattungen in allen Kommunen rapide angestiegen. Die Leichen werden eingeäschert – möglichst kostengünstig. Die Asche kommt dann in eine einfache Metallurne. Wenn genug Urnen beisammen sind, dann wird eine Rinne mit einem Bagger gegraben, die Urnen reingesetzt und das war's.

"Außer dem Friedhofsgärtner war keiner am Grab, wenn die Metallurnen vergraben wurden", beschreibt der Pastor die frühere Situation in Göttingen bei diesen Bestattungen. Da seien Menschen einfach entsorgt worden.

Bundesweit sind es mehr als 10.000 Menschen jährlich, für die am Ende ihres Lebens nur eine Armenbestattung übrig bleibt. Tendenz: steigend.

"Menschen werden immer älter und das bringt es mit sich, dass immer mehr Menschen im Alter auch vereinsamen, (…) und dann entsteht so eine Situation, dass ein Mensch so einsam, wie er in seinem letzten Lebensabschnitt gelebt hat, so einsam auch stirbt und auch beigesetzt werden muss."

Die Tobiasbruderschaft organisiert nun in Göttingen alle drei Monate einen Trauergottesdienst, zu dem sie per Zeitungsanzeige einlädt. Neben den Männern der Bruderschaft kommen auch einige der früheren Nachbarn und Bekannten, die die Gelegenheit nutzen, Abschied zu nehmen. In jedem Gottesdienst sprechen die Brüder zum Schluss den Tobiassegen, einen Reisesegen aus dem 12. Jahrhundert. Danach singen sie ein Lied, auf das Harald Storz in der Gründungsphase der Bruderschaft stieß: "Herr, gedenke doch der Namen". Ein Text von Mattheus Verdaasdonk aus den 1960er-Jahren, wie geschrieben für den Anlass der Trauerfeier:

"Herr, gedenke doch der Namen derer, die gestorben sind, und vergiss nicht wie sie kamen: Schritt für Schritt im Gegenwind, über’s Feld der langen Leiden, durchs Gehölz der Einsamkeit, sehnlich immer hoffend, ihnen sei ein Vaterhaus bereit."

Die Tobiasbruderschaft ist eine Initiative, die Wolf-Dietrich Köhler vom Sozialwissenschaftlichen Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland sehr begrüßt. Er hat am Beispiel der Stadt Hildesheim die Armenbestattungen untersucht. Eine seiner Beobachtungen: der Trend zur anonymen Bestattung kann durchbrochen werden.
"Es gibt in der Kommune einen kirchlichen Friedhof, der lässt nur noch Urnenbeisetzungen mit einer Platte auf dem Rasen zu, (…) ob die Platte einen Namen trägt oder nicht, das kann frei entschieden werden, kostet aber nicht mehr oder weniger. Und die Erfahrung ist, dass seit es diese Regelung gibt, kaum noch jemand ohne Namen bestattet werden will. Das heißt, die wollten alle gar nicht anonym, sie wollten kostengünstig und pflegeleicht bestattet werden (,…) und die Tendenz (..) ist, dass im kirchlichen Bereich Friedhofsordnungen geändert werden, dass anonyme Bestattungen nicht mehr sein soll."

Die Tobiasbruderschaft, vor zwei Jahren gegründet, hat 30 Mitglieder. Sie greift eine Tradition aus dem Mittelalter auf, als sich Männer in Kriegs- und Seuchenzeiten zusammenschlossen, um Verstorbene zu bestatten, die keine Angehörigen mehr hatten. Die Bruderschaft ist nicht nur aus Traditionsbewusstsein ein Männerbund, sagt Harald Storz:

"Vor allem haben wir uns für diese Tradition entschieden, weil wir gemerkt haben, dass Männer im diakonischen Bereich sich sehr wenig engagieren, (…) das war uns Anlass zu sagen, es ist sinnvoll auch mal einen Bereich zu kreieren, in dem es ein spezifisches Männerengagement gibt."

Der Name für die Bruderschaft stammt übrigens aus der Bibel. Im wenig bekannten und nicht in allen Bibelausgaben erhaltenen Buch Tobit im Alten Testament sagt die Hauptperson Tobias:

"Wenn ich sah, dass einer aus meinem Volk gestorben war und dass man seinen Leichnam hinter die Stadtmauer von Ninive geworfen hatte, begrub ich ihn."