Wenn man Menschen plötzlich abschiebt, "dann haben die nichts mehr"

Hauke Wendler im Gespräch mit Susanne Führer · 09.01.2013
Sie kamen aus Lettland, wollten sich in Hamburg integrieren, doch über den Status der Duldung kamen sie nie hinaus - die Familie von Wadim, eines Jungen, der sich vor zwei Jahren das Leben nahm. Der Dokumentarfilmer Hauke Wendler hat dieses Schicksal in "Tod nach Abschiebung" beschrieben.
Susanne Führer: Heute Abend um 22.45 Uhr zeigt die ARD den Film "Tod nach Abschiebung – Wadim". Er zeichnet das Schicksal eines jungen Mannes nach, eben Wadim, der hoffte, in Deutschland leben zu können.

Beitrag in Radiofeuilleton, Deutschlandradio Kultur (MP3-Audio) Besprechung des Films "Tod nach Abschiebung. Wadim" von Tobias Wenzel

Und Hauke Wendler, einer der beiden Regisseure, ist uns nun aus einem Studio in Hamburg zugeschaltet. Ich grüße Sie, Herr Wendler.

Hauke Wendler: Guten Tag, Frau Führer.

Führer: Wadim hat sich vor zwei Jahren, fast auf den Tag genau, das Leben genommen. Mit wem haben Sie gesprochen, um sein Leben zu rekonstruieren für diesen Film?

Wendler: Also, das Schwierige bei diesem Filmprojekt, das ich mit meinem Kompagnon Carsten Rau zusammen gemacht habe, war natürlich, dass man einen Film über einen Protagonisten macht, der tot ist. Da haben wir uns anfangs überhaupt auch lange gefragt, ob das geht, ob man da überhaupt noch diesen Menschen dem Publikum, den Zuschauern näher bringen kann. Und dafür sind diese Protagonisten, die Sie angesprochen haben, eben besonders wichtig.

Wir haben dann lange gesucht und auch im Laufe der gut anderthalb Jahre, die wir da gedreht haben, uns immer weiter in diesen Freundes- und Bekanntenkreis reingearbeitet. Wir haben gesprochen mit der Familie natürlich, also mit den Eltern von Wadim, sehr lange, sehr oft. Wir haben mit seinen Freunden gesprochen, mit seinem Lehrer, wir haben mit der Sozialarbeiterin beim Jugendamt gesprochen, aber auch zum Beispiel bei der Sozialarbeiterin im Obdachlosenheim in Riga nachgefragt, wo Wadim gelandet ist. Also, diese Menschen geben dem Film eigentlich sein Gesicht, würde ich sagen.

Führer: Und er selbst hat ja auch ein Gesicht, er kommt uns sehr nahe. Man ist fast ein bisschen erschrocken, denn wir sehen auch Filmaufnahmen von ihm.

Wendler: Ja, das ist ein glücklicher Zufall, das braucht man, glaube ich, in unserem Beruf ab und zu mal. Als wir angefangen haben, an dem Projekt zu arbeiten, war gar nicht klar, dass es über die Fotos hinaus tatsächlich auch noch Videoaufnahmen von Wadim selbst gibt. Die haben seine Eltern und sein Bruder, als er bei einem seiner illegalen Besuche in Hamburg war, angefertigt. Irgendwann holte die Mutter mal eine alte Kamera raus und sagte, da wäre noch was drauf, aber sie hätten das gar nicht mehr runter bekommen. Und dann haben wir das noch mal finalisiert und da war dieses Material. Und das war für diesen Film wirklich ein Geschenk, weil der Junge da einfach ein Gesicht bekommt, und das braucht es, glaube ich, bei der ganzen Geschichte. Es geht, glaube ich, darum, dass man diesem Thema Asyl, Duldung, wieder ein Gesicht gibt.

Führer: Und sein Gesicht in dem Film ist fröhlich.

Wendler: Ja, das fand ich das wirklich auch Berührende bei dieser Geschichte für mich und so geht es, glaube ich, auch vielen Zuschauern, zumindest haben wir den Eindruck bei so Kinoterminen, wo wir nachher mit den Zuschauern reden, dass man halt zu diesem jungen Mann oder diesem Jungen ganz schnell so einen Draht aufbaut. Man sieht halt die Bilder seiner Kindheit, das sind Bilder, wie man die selber zu Hause im Fotoalbum hat, also Wadim mit seinem Vater auf dem Ausflugsdampfer, auf dem Jahrmarkt, im Park. Und dann auch dieses Gesicht, so wie Sie sagen, auch mit so einem leichten Lächeln, da entsteht ganz schnell so ein Draht und man fragt sich irgendwann natürlich: Ich lebe hier und Wadim ist tot, wie passt das zusammen? Und was wäre, wenn das mit mir passieren würde und mein Sohn würde aus der Familie rausgerissen? Also, ich glaube, da liegt das Spannungsfeld dieses Films auch.

Führer: Herr Wendler, lassen Sie uns noch mal kurz rekapitulieren: Wadim war sechs, als seine Familie 1992 mit ihm nach Hamburg kam, sie haben Lettland verlassen. Warum?

Wendler: Die Familie, die Eltern sind Teil der russischstämmigen Minderheit. Das ist natürlich ein sehr komplexes Spannungsfeld, wenn man sich den Ausgangspunkt dieser Geschichte anguckt. Lettland ist natürlich von der Sowjetunion besetzt worden, ist natürlich auch in weiten Teilen unterdrückt worden. Die Eltern sind zu einem viel späteren Zeitpunkt also erst nach Lettland gegangen und haben dort gearbeitet ganz normal im Rahmen … Das waren ganz normale Prozesse, wie die in der UdSSR ständig stattgefunden haben. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR und vor allen Dingen der Unabhängigkeit Lettlands hat sich natürlich die Sache umgedreht, das heißt, die lettische Bevölkerung hat mit Fug und Recht auch gesagt, nein, wir wollen die Verhältnisse hier ändern.

Und Wadims Vater war selber bei der Polizei zu Zeiten der Sowjetunion und stand natürlich, nachdem die lettische Unabhängigkeit durchgesetzt worden war, als sozusagen, wie sie es selber dann genannt haben auch in dem Film, als "Besatzer" da. Da gab es dann mehrere Übergriffe, die Familie hat sich zu dem Zeitpunkt einfach nicht mehr sicher gefühlt. Also, über den Verlust des Arbeitsplatzes und der Wohnung hinaus hatte der Vater einfach Sorge um seine Familie, um die Sicherheit seiner Familie. Und deshalb sind sie da weggegangen und haben halt in Deutschland Asyl beantragt und hatten die große Hoffnung, dass, wenn sie sich jetzt ganz viel Mühe geben und ordentlich arbeiten und schwer schuften, dass sie sich hier eine Zukunft…

Führer: Herr Wendler? Ich fürchte, jetzt ist unsere Leitung zum NDR nach Hamburg zusammengebrochen, das ist aber schade. Vielleicht sprechen wir uns gleich noch weiter, das war auf jeden Fall erst mal der erste Teil des Gesprächs mit Hauke Wendler, der gemeinsam mit Carsten Rau den Dokumentarfilm "Tod durch Abschiebung. Wadim" gedreht hat, der heute Abend um 22:45 Uhr in der ARD läuft, im ersten Fernsehprogramm.

... so, und jetzt zweiter Teil des Gesprächs mit dem Regisseur Hauke Wendler, der gemeinsam mit Carsten Rau den Film "Tod durch Abschiebung. Wadim" gedreht hat. Herr Wendler, jetzt hören wir uns wieder?

Wendler: Frau Führer, ich höre Sie sehr gut.

Führer: Wunderbar! Jetzt müssen wir das ja alles etwas beschleunigen.

Wendler: Ja, machen wir!

Führer: Also, die Familie hat einen Asylantrag gestellt, die aus Lettland, eine russischstämmige Familie aus Lettland, die nach Deutschland geflohen ist. Zu keinem großen Erstaunen ist dieser Asylantrag abgelehnt worden, Lettland ist ja seit nunmehr neun Jahren Mitglied in der EU. Was passierte dann? Dann gab es diese berühmte Duldung …

Wendler: Ich muss da leider einmal eingreifen, ich meine, nach so einem Leitungszusammenbruch ist es manchmal ein bisschen wild …

Führer: Ja.

Wendler: Also, die Familie hat natürlich 1992 den Asylantrag gestellt, da war Lettland noch nicht Mitglied der Europäischen Union …

Führer: Das stimmt, ja, schon unabhängig, ja.

Wendler: Und es gab durchaus auch plausible Gründe, finde ich, in der … Ich habe den Antrag der Eltern natürlich gelesen, bei dem Versuch, politisches Asyl hier zu beantragen. Die Situation damals, das finde ich eigentlich auch ganz spannend, ohne da jetzt zu weit ausholen zu wollen, war einfach, dass man Anfang der 90er-Jahre halt statt meinetwegen vorher 30.000, 40.000 Asylbewerbern auf einmal 440.000 Asylbewerber hatte und dass es große Sorgen in diesem Land gab, wie man dieser Masse von Menschen gerecht werden kann. Und da ist auch relativ rigide mit dem Thema Asyl umgegangen worden. Ich glaube, das spielt auch eine Rolle bei der Ablehnung dieses Asylantrages.

Führer: Ja. Gut, der Antrag wurde abgelehnt, relativ rasch.

Wendler: Der Antrag wurde nach drei Jahren abgelehnt und dann begann eigentlich das, was unserer Meinung nach irgendwie eines der größten Probleme ist, die wir in diesem Bereich heute in Deutschland haben: Die Familie konnte halt nicht abgeschoben werden, weil Lettland damals gesagt hat, nein, wir nehmen die nicht auf, das sind ja gar nicht unsere Staatsbürger. Die letzten Pässe der Familie waren sowjetische Pässe, das Land gab es nicht mehr, man konnte die Familie also nicht abschieben. Andere Länder, wo um Pässe nachgefragt wurde, haben auch gesagt, also, Kasachstan, Aserbaidschan haben gesagt, wir nehmen die auch nicht auf, auch wenn die hier geboren worden sind, das sind nicht unsere Staatsbürger.

Und dann saß die Familie hier fest. Und das ist halt das Problem bei der Duldung heute in Deutschland, dass man manchmal Leute hier wirklich hat … Wir haben bei früheren Dokumentationen, die wir für den NDR gemacht haben, Menschen getroffen, die lebten hier seit 18 oder 20 Jahren mit einer Duldung. Da kommt es natürlich zu einer Verfestigung von Lebensverhältnissen, die kann man dann … Wenn man diese Menschen plötzlich da rausreißt und die abschiebt, dann haben die nichts mehr. Und das ist Thema des Films.

Führer: Ja, man sollten noch mal daran erinnern, dass juristisch eine Duldung also kein Aufenthaltstitel ist, sondern nur eine ausgesetzte Abschiebung.

Wendler: Ganz genau, das ist das Problem dabei, ja.

Führer: Also, was heißt das für das tägliche Leben?

Wendler: Also, ein Leben mit Duldung muss man sich ungefähr so vorstellen, dass … Diese Menschen dürfen erst mal hier größtenteils nicht arbeiten. Es gibt ganz selten mal Ausnahmen, also, sie dürfen nicht arbeiten, sie werden in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht, das heißt, das sind manchmal sehr beengte Wohnverhältnisse. Da sitzen sie dann also, sie leben von einem verminderten Hartz-IV-Satz nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Das heißt, es gibt kein Geld, es gibt keine Anerkennung, keine soziale, es gibt eine massive, finden wir, einen massiven Druck seitens der Ausländerbehörden, weil, oft müssen diese Leute dann – und so war es auch in dem Fall von Wadims Familie – sehr häufig bei den Ausländerbehörden vorsprechen. Und wenn man dann hört, dass man meinetwegen … Ich habe selber zwei kleine Kinder, wenn ich mir vorstelle, dass ich mit meinem vierjährigen Sohn dann sechs, sieben, acht Stunden teilweise bei dieser Behörde bin und da sitze, …

Führer: Damit die Duldung um ein paar Wochen verlängert wird.

Wendler: Damit die Duldung um ein paar Wochen verlängert wird, und ich kann noch nicht mal rausgehen und mir ein Brötchen kaufen, weil, die Nummern werden – und so war es damals in Hamburg – nicht chronologisch aufgerufen, dann kann ich mir ungefähr vorstellen, wie angespannt ich nach so einem Termin bin. Und wenn ich das vielleicht manchmal – im Sommer hatten die das zweimal die Woche – habe, dann ist das für mich kein Wunder, dass die Eltern nach sechs Jahren Depressionen und andere schwere psychische Erkrankungen entwickelt haben.

Führer: Weil man ja sich auch nie einrichten kann im eigenen Leben.

Wendler: Nein, man kann sich nicht einrichten und man kann vor allen Dingen … Diese Menschen kommen ja häufig hierher, weil sie etwas aufbauen möchten. Speziell der Wunsch, was für die Kinder aufzubauen, ist ganz stark, und gerade bei den Eltern von Wadim war der ganz stark. "Wenn wir richtig doll arbeiten." Der Vater hätte hier 14, 15 Stunden am Tag alles gemacht, das war der Wunsch. Und die Familie hat sich integriert, die waren in der Kirchengemeinde, Wadim ist ganz normal zur Schule gegangen, hat hier Klavier und Fagott gespielt, also, die haben alles probiert, um hier anzukommen, aber man hat sie im Grunde genommen nicht gelassen. Und das führt natürlich zu einem wahnsinnigen Frust, der da sitzt und der unserer Meinung nach auch völlig unnötig ist, weil, dieser Druck wird nur ausgeübt, damit die Menschen irgendwann gehen. Bloß, diese Familie konnte nirgends hingehen.

Führer: Hauke Wendler, er hat gemeinsam mit Carsten Rau den Dokumentarfilm "Tod durch Abschiebung. Wadim" gedreht. Heute Abend läuft er um 22.45 Uhr in der ARD.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.