Wenn Mädchen nicht jung sein können

Rezensiert von Edelgard Abenstein · 29.03.2006
Gerlind Reinshagen erzählt in dem Roman "Vom Feuer" aus eigenen Erfahrungen von 1939 bis zum Wirtschaftswunder - in einer Gruppe von Jugendlichen an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Es ist die Geschichte von drei Freundinnen in einer Kleinstadt im Norden Deutschlands und ihren kaum älteren Verlobten, die als Soldaten irgendwann nach Hause kamen. In stetiger Nähe zum Tod hatten sie nicht jung sein können.
Lange Zeit sah es so, als scheute sich die deutsche Literatur, den Krieg und dessen Auswirkungen auf den Frieden zum Thema zu machen. Erst vor einigen Jahren wurde, wie es schien, auch das letzte Tabu gebrochen, und Uwe Timm und Hans-Ulrich Treichel etwa trugen mit ihren Romanen "Der Verlorene" und "Am Beispiel meines Bruders" zur inneren Geschichtsschreibung ihrer Generation bei. Beide spürten den emotionalen Höhen und Tiefen, den subtilen Mechanismen der Kriegsfolgen bis in die Familiengeschichten der 70er Jahre nach.

Gerlind Reinshagen aber, die am 4. Mai 80 Jahre alt wird, schreibt aus unmittelbarem Erleben der unendlich langen Jahre von 1939 bis in die Hochzeit des Wirtschaftwunders. In 40 Episoden erzählt sie von einer Gruppe von Jugendlichen an der Schwelle zum Erwachsenwerden, von drei Freundinnen in einer Kleinstadt im Norden Deutschlands und ihren kaum älteren Verlobten, Soldaten, die irgendwann nach Hause kamen, dem Krieg ebenso wenig gewachsen wie sie. In stetiger Nähe zum Tod hatten sie nicht jung sein können, bei allen verzweifelt genutzten Anlässen zur Ausgelassenheit, nicht unbesonnen, niemals unbesorgt.

Es ist die Hauptfigur, Aneta - sie trägt deutliche Züge ihrer Erfinderin -, die als späte Chronistin auftritt, als "Lebensbeschreiberin für das, was sich der Berechnung entzieht". Ihr Adressat ist ihr im Krieg vermutlich umgekommener Geliebter, und ihre Briefe lösen viele Jahre später ein Versprechen ein, das sie dem Soldaten gegeben hat, bevor er in den Krieg zog. Doch als sie auf ihn wartete, als sie ihn vermisste, vermochte sie nicht zu schreiben, nicht, als sie die Todesangst erlebte, als sie lachte, tanzte, weinte. So wird das Motiv der nachgetragenen Liebesbotschaft zum heimlichen Impuls für den Roman, für die Rückschau, für das Sich-Erinnern.

Nach welchen Gesetzen, so fragt sie, bewahrte das Gedächtnis Geschichten auf, wie vollzog sich überhaupt das Leben damals - in Sprüngen, niemals in einer geordneten Abfolge. So assoziiert sie einzelne Augenblicke, Atmosphärisches. Es sind beklemmende Bilder von der Abwesenheit von Menschen, vom Staub und der Stille, nichts hört man vom Lärm der Sirenen, der Bomber und Panzer, dem Hassgebrüll. Eindringlich geschildert wird ein Zustand von Erstarrung, von einer Art Taubheit mitten im Kriegsgetöse und danach in der Geschäftigkeit des Friedens.

Dem waren viele nicht gewachsen wie der kleine Pauly zum Beispiel, der halbverhungert aus russischer Gefangenschaft zurückkam und nur scheinbar ins Leben zurückfand, sich einen Bauch anfraß und bis zum Delirium trank, wieder dünn wurde und eines Tages wie einen Gottesdienst sein letztes Mahl zelebrierte.

Vom Entsetzen, von Zerstörung, von zerfetzten Leibern und brennenden Städten ist nicht die Rede. Reinshagen hält Abstand zu allen Untergangs- und Inferno-Bildern. Ihre Sprache schwebt gewissermaßen über den Dingen. Expressionistisch aufgeladen, nicht frei von Pathos, umkreist sie in hohem Ton den Schrecken, als wolle sie ihn so von sich und uns fernhalten. Ein durchaus kühnes Experiment, das freilich nur zum Teil gelingt.

Mit ihrem Roman "Vom Feuer" knüpft die Dramatikerin, die mit vielen ihrer Stücke wie "Leben und Tod der Marilyn Monroe", die Todesfuge "Himmel und Erde" Theatergeschichte geschrieben hat, an ihre von Michael Verhoeven verfilmten "Sonntagskinder" an. Der Bilderbogen schilderte aus Kindersicht Menschen einer Kleinstadt während der Nazi-Zeit.

1981 erschien ihr erster Roman, "Rovinato oder Die Seele des Geschäfts". Es folgten u. a. 1993 "Jäger am Rande der Nacht", 1996 der Berlinroman "Am großen Stern" und 2000 "Göttergeschichte" - poetische Bücher über die vergebliche Suche nach dem richtigen Leben im falschen. Ihre Romane und Stücke sehen die Gesellschaft hauptsächlich aus der Sicht der "kleinen" Leute und thematisieren ihre Konfrontation mit Rücksichtslosigkeit und Unmenschlichkeit. Auch ihrem bewegenden Kollektivporträt gibt sie einen freilich altersmilden Aufruf zum aufrührerischen Denken mit. Ans Ende stellt sie ein ungewöhnliches Plädoyer. Es wird um Nachsicht geworben für die vom Zweiten Weltkrieg gezeichnete, bereits entschwindende Generation.


Gerlind Reinshagen, Vom Feuer.
Roman. Suhrkamp-Verlag.
200 Seiten, 19,80 Euro.