Wenn Liebe zum Besitz wird

Die "liebesterroristische" Mutter ins Altenheim abschieben? Besitzergreifende Liebe zwischen Mutter und Tochter führt zu Konflikten. So schildert es Viktorija Tokarjewas in ihrer Titelerzählung. "Liebesterror" impliziert den Grat zwischen Wohlgefühl und Schrecken. Tokarjewas Geschichte wie die anderen drei enden versöhnlich - solide aber ohne literarische Spitzen.
Eine literarische Sensation der lauten Art hat die russische Autorin Viktorija Tokarjewa (Jahrgang 1937) nie vollbracht. Jenseits des eindringlichen Dramatismus einer Ljudmila Petruschewskaja, fern auch der sprachlichen und literarischen Experimentierlust einer Valerija Narbikova, hat sie dabei doch ein beständiges, solides Gesamtwerk hervorgebracht, dem vielleicht die herausragenden Spitzen fehlen, das aber ein beachtliches Niveau nie unterschreitet.

Maßgebliches Fundament ihres Erzählens ist ein feines Sensorium für die Innenwelten und Lebenssituationen ihrer weiblichen Figuren. Bei den hier vorgelegten vier Erzählungen ist das nicht anders.

Der Titel des Bandes macht klar, worauf das Augenmerk in all diesen Texten liegt: auf der engen Nachbarschaft, die manchmal bis zur Durchdringung reicht, zwischen dem Wohlgefühl der Liebe und einer geradezu Schrecken verbreitenden Komponente, die dieses Wohlgefühl durchaus auch mit sich bringen kann.

Die Titelerzählung schlägt den weitesten zeitlichen Bogen. Sie erzählt – verdichtet – die Lebensgeschichte von zwei Frauen, die seit ihrer Nachkriegskindheit miteinander befreundet sind. Beide wachsen ohne Väter auf, und während die Ich-Erzählerin ihre weitgehend normale Entwicklung schildert, protokolliert sie gleichsam auch die Lebensgeschichte ihrer Freundin.

Wobei der Blick im Verlauf der Geschichte immer stärker auf die eigentümliche Beziehung zwischen der Mutter und der Tochter, jener Freundin, gerichtet wird. Freigelegt wird eine unzweifelhafte Liebe, die aber auch überaus besitzergreifend ist. Denn im gleichen Maß, in dem die Mutter bereit ist, sich ganz und gar für ihre Tochter einzusetzen, sich geradezu zu opfern, verlangt sie auch ein heftiges Mitspracherecht in allen anderen Lebensbelangen ihrer Tochter.

Das führt unweigerlich zu schweren Konflikten, die schließlich in einer finalen Entscheidung aufgehen: Was tut man, wenn sich plötzlich die Möglichkeit ergibt, diese "liebesterroristische" Mutter in ein sehr komfortables Altenheim abzuschieben?

Um Mann-Frau-Beziehungen kreisen die drei anderen und deutlich kürzeren Erzählungen dieses Bandes. Es geht dabei weniger um das psychologische Ausloten der grenzenlosen Möglichkeiten, die solche Beziehungen offen halten. Vielmehr spielt die Autorin mit den Wechselfällen des äußeren Lebens und ihren Auswirkungen auf solche Mann-Frau-Konstellationen. Der arbeits- und obdachlose Ingenieur, der, von einem Funken der Barmherzigkeit gestreift, zu einer Suppe eingeladen wird und sich wiederfindet in einem nachbarschaftlichen Frauen-Kosmos, der nur auf ihn gewartet zu haben scheint.

Das Regie-Talent, das auf einem Provinzfestival ein paar heiße Nächte mit einer Hostess verbringt, ihr, die mittlerweile gezeichnet ist von einer Chemotherapie, ein paar Jahre später wiederbegegnet, sie wieder aus den Augen verliert und erneut auf sie trifft, als sie, offenkundig gesund und reich geworden, sich anbietet, einen Film zu finanzieren.

Die jahrelange Geliebte des großen Künstlers, die auf dessen Beerdigung erscheint und deren makel- und selbstloses Verhalten die Frage aufwirft, was denn legitime oder illegitime Liebe sein könnte.

Viktorija Tokarjewas Geschichten enden versöhnlich. Dem Terror der Verhältnisse setzen sie tatsächlich die Kraft der Liebe entgegen. Auf eine stille, lebenskluge Art deuten sie Möglichkeiten und Auswege an, wo man auf den ersten Blick nur Verzweiflung erwarten mag.

Rezensiert von Gregor Ziolkowski

Viktorija Tokarjewa: Liebesterror und andere Erzählungen,
aus dem Russischen von Angelika Schneider
Diogenes Verlag, Zürich 2008
217 Seiten, 19,90 Euro