Wenn jede Stimme zählt

Von Karin Hartewig |
Dem Wahlvolk wird in diesem Jahr eine ordentliche Portion Dickfelligkeit und Kondition abverlangt. Auf die Landtagswahl in Hessen folgen im Superwahljahr 2009 Sachsen, Thüringen, das Saarland und Brandenburg.
Dann gibt es die Wahl des Bundespräsidenten, die Europawahl und schließlich die Bundestagswahl im September. Schon jetzt ist klar, der Wahlmarathon wird das Land in einen Kokon aus Plattitüden einspinnen. Es wird viel geredet, gemeint und plakatiert, aber wenig regiert und opponiert werden. So kann man sich auf Monate simulierter Politik gefasst machen.

Ironischerweise erinnert der Zustand immerwährender Mobilisierung durch Wahlpropaganda bei gleichzeitiger Vermeidung politischer Entscheidungen manche Zeitgenossen an die DDR in ihrer Endphase. Damals waren es ausgerechnet Wahlen, die den Anfang vom Ende einläuteten: Die eher unbedeutenden Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 brachten die SED-Führung ernstlich in die Bredouille.

40 Jahre lang waren Wahlen unter Ulbricht und Honecker eine Farce - und alle wussten es. Die Untertanen hatten lediglich die von der SED abgesegnete Einheitsliste der Kandidaten zu bestätigen, sonst nichts. Offiziell lag die Quote der Claqueure stets über 98 Prozent. Im letzten Sommer der DDR aber blieb das offene Geheimnis der Scheindemokratie nicht ohne Folgen.

Erstmals rief die Bürgerbewegung dazu auf, gegen die Einheitsliste zu stimmen oder aber die Abstimmung ganz zu boykottieren. Ermutigt durch Gorbatschows Glasnost und Perestroika, wurde auch die schweigende Mehrheit aufmüpfig. In aller Öffentlichkeit forderte man Pluralismus gegen die Allmacht der SED.

In ungewohnter Schärfe wurden die Kandidaten mit den Missständen im Lande konfrontiert. Weit jenseits der Dissidenten-Milieus probte das Staatsvolk den Aufstand. Die Wahlen selbst wurden für die SED zum Debakel. Zwar bejubelte die linientreue Presse 98,85 Prozent Ja-Stimmen in alter Manier.

Aber die Opposition wusste es besser. Ihre Wahlbeobachter wiesen nach, dass Wahlbeteiligung und Endergebnis nachträglich gefälscht worden waren. Sie zählten bis zu zehn Prozent Gegenstimmen. Erboste Bürger beschwerten sich bei der Staatsmacht über fehlende Wahlkabinen und andere "Unregelmäßigkeiten". Aufrechte Demokraten erstatteten Anzeige wegen Wahlbetrugs – ein Straftatbestand, auch nach DDR-Recht!

Andere gingen noch weiter. Alle, die mit dem SED-Staat endgültig abgeschlossen hatten, zerrissen in aller Öffentlichkeit ihre Wahlbenachrichtigungen und Wahlscheine. Ihr Votum war unmissverständlich. Die Stasi rechnete nach, dass der Anteil der heimlichen und aggressiven Nichtwähler sich gegenüber den letzten Volkskammerwahlen 1986 verdreifacht hatte. Nach 40 Jahren wurde die gefühlte Bevormundung in der SED-Demokratur unerträglich. Viele wünschten sich endlich demokratische Verhältnisse. Eine solide Minderheit verweigerte dem System seine Zustimmung. Dieses Legitimationsdefizit konnte die SED nicht länger übertünchen.

Heutzutage erleben wir eine Verdrossenheit anderer Art. Zwar ist am westdeutschen Wahlsystem wenig zu beanstanden. Weder der Wahlvorgang noch die Auszählung der Stimmen geben Anlass zu begründetem Misstrauen. Doch wie steht es mit der politischen Umsetzung des Bürgerwillens in der repräsentativen Demokratie? Im Osten der Republik ist die Zahl der Skeptiker und Desillusionierten besonders groß. Nur die ersten und letzten freien Wahlen zur DDR-Volkskammer im März 1990 mobilisierten legendäre 93 Prozent Wahlbeteiligung. Seitdem verzeichnet die Partei der Nichtwähler in allen gesamtdeutschen Wahlen überproportionalen Zuwachs.

Die protestierenden DDR-Bürger hatten noch an die Demokratie geglaubt. Die Wahlverweigerer nach der Wende haben die Hoffnung in das demokratische Verfahren schnell verloren.


Karin Hartewig, geb. 1959 in München, ist freiberufliche Historikerin und lebt in Göttingen. Ihre Themen: Deutsche und Juden im 20. Jahrhundert, Biografien, Generationen, Fotografie und Journalismus. Veröffentlichte zuletzt zur visuellen Überwachung und zur Geschichte der Fotografie: "Das Auge der Partei. Fotografie und Staatssicherheit in der DDR" (2004) und "Die DDR im Bild. Zum Gebrauch der Fotografie im anderen deutschen Staat" (zusammen mit Alf Lüdtke, 2004).
Karin Hartewig
Karin Hartewig© privat