Wenn es knickst und knackst

Von Oliver Kranz · 05.10.2010
Musik, die auf Instrumenten gespielt werden soll, hat Hannes Seidl schon lange nicht mehr geschrieben. In seinen Stücken kann man Bohrmaschinen aufheulen hören oder den Klang von Schleifpapier auf Zelluloid.
Die Sänger stehen vor Bildschirmen, auf denen ein Spielcasino, ein Fitnesscenter, ein Schwimmbad und ein Varietétheater zu sehen sind. Sie imitieren Geräusche:

Hannes Seidl: "Teilweise doppeln sie das, was im Film passiert, teilweise entfernen sie sich davon oder ziehen ihre Töne aus Tönen, die schon da waren - beispielsweise einer Klimaanlage oder wenn Musik im Radio lief. Musik ist ja überall, wenn man mal drauf achtet. Die kann ich fortspinnen ins reale Sängerdasein."

Wenn ein Sänger zischt und blubbert wie eine Kaffeemaschine, hat das natürlich etwas Komisches. Doch darum geht es Hannes Seidl nicht:

"Mich interessiert das Verstärken der Situation, in der ich mich befinde, um die Situation selbst aufscheinen zu lassen. Also der Moment, wo alle meine Sinne hell offen sind, weil alles 'ne Rolle spielt."

Und solche Momente findet Hannes Seidl eher bei Theaterperformances als im klassischen Konzertsaal. Vor einem Jahr hat er seine erste CD herausgebracht, "Musik für übers Sofa":

"Auf der CD ist es das CD-Hören, was ich verstärke. 'Musik für übers Sofa' ist eine CD-Produktion, da sind Stücke drauf, die sind auch live aufführbar - sind aber live anders. Auf der CD beziehen sie sich auf die Situation des Auf-dem-Sofa-Sitzens und Hörens. Es gibt da zum Beispiel Einbrüche von Musik aus dem Nebenraum, die man gar nicht hört an der Stelle vielleicht, aber wenn man sie fünf Mal gehört hat, fragt man: Warum ist an der Stelle immer der Bass vom Nachbarn da? Das arbeitet damit. ""

Hannes Seidl ist 33, wirkt aber älter - vor allem wegen der tiefen Falte zwischen seinen Augenbrauen. Das lange blonde Haar hat er korrekt gescheitelt. Fragen zu seiner Musik beantwortet er gern:

""Geräusche lassen sich genauso notieren wie Töne. Es sind halt nur andere Zeichen. Also es gibt dann nen Schlüssel, der heißt: Ab jetzt heißt alles, was hier an Noten steht, Geräusche hoch und tief. Es ist alles durchnotiert."

Hannes Seidl gehört nicht zu den Komponisten, die ihre Gefühle Klang werden lassen. Ihm geht es um politische und philosophische Fragen: Kann man Arbeit und Freizeit voneinander trennen? Wird Musik, die zur Hintergrundbeschallung von Kaufhäusern genutzt wird, entwertet? Wie beeinflussen Klänge einen Raum?

"Also ich habe ein Stück gemacht, wo im Raum - also es ist für Schlagzeug und Elektronik und der Schlagzeuger ist nicht zu sehen - ausschließlich Knackse zu hören sind und Pulse. Man hat das Gefühl, überall im Raum knickst es und knackst es und der Schlagzeuger wirft andauernd Dinge runter."

Das Stück heißt "Gegenkontrolle" und lässt durch die ungewöhnliche Hörsituation die Klänge schärfer hervor treten. Seidl liebt Irritationen, Musik, die man nicht einfach nur hören, sondern im Raum erfahren muss.

Geboren wird er 1977 in Bremen. Als Kind zweier Musiklehrer bekommt er schon früh Klavierunterricht. Doch seine Begeisterung für das Instrument hält sich in Grenzen. Mit 17 weiß er, dass er Komponist werden will:

"Ich arbeite lieber hinter der Bühne und komponiere und strukturiere den Abend. Das ist auch, was mir mehr liegt - das Nachdenken über Musik und das Arbeiten an den Klängen."

Sein Kompositionsstudium absolviert Hannes Seidl an der Folkwang-Schule in Essen und bei Beat Furrer in Graz. Schon als Student erhält er erste Aufträge. Geld verdient er mit seiner Musik aber kaum. Das hat er auch nicht erwartet:

"90 Prozent der Komponisten, die ich kenne, leben auch nicht vom Komponieren, sondern vom Unterrichten."

Hannes Seidl gehört nicht zu diesen 90 Prozent. Nach dem Studium hält er sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, läuft als Hase verkleidet durch Fußgängerzonen, testet Medikamente, fährt Bier aus. An der Richtigkeit seiner Berufswahl zweifelt er trotzdem nur selten:

"Ich habe nie für die Schublade geschrieben. Ich habe immer konkret Projekte realisiert und realisieren können."

Seidls Stücke werden unter anderem vom Klangforum Wien, dem Ensemble Modern und dem Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks uraufgeführt. Er erhält Stipendien und Preise und wird mit der Elektronikband dis.playce, die er vor sieben Jahren gemeinsam mit dem Komponisten Maximilian Marcoll gegründet hat, immer wieder zu Konzerten eingeladen. Wirklich berühmt ist er aber noch nicht:

"Es ist total albern: Stücke über ein halbes Jahr zu erarbeiten, die werden dann einmal gespielt, und das war’s dann. So funktioniert die Neue-Musik-Szene: Es geht den Leuten um Uraufführungen und ein Stück muss schon was bieten."

Um die Vermarktbarkeit seiner Stücke hat sich Seidl bisher wenig geschert. Er ist bekannt genug, um immer neue Aufträge zu erhalten - in diesem Jahr sogar so viele, dass er sie kaum abarbeiten konnte. Erst brachte er ein Stück in den Berliner Sophiensälen heraus, dann einen musikalischen Rundgang in einem brandenburgischen Dorf, dann eine Klangperformance auf dem Gelände des Klett-Verlages in Stuttgart:

"Es geht nur, weil die Projekte so unterschiedlich sind. In dem Moment, wo ich an dem Ort bin, bin ich auch hundertprozentig in dem Projekt drin, weil sich das Projekt so auf diesen Ort bezieht."

In den letzten Monaten ist Seidl zwischen Berlin, Stuttgart und dem brandenburgischen Klein Leppin hin und her gependelt - nur in Frankfurt war er selten, wo er mit seiner Freundin zwei kleine Kinder hat. Dorthin sehnt er sich. Nach der Premiere in Stuttgart will er sich eine längere Pause gönnen und zu Hause bleiben, um gedanklich und seelisch wieder aufzutanken.