"Wenn er da in die linke Ecke schießt"

Anna Kemper im Gespräch mit André Hatting |
Die Sprüche von Fußball-Reportern wie "Der Drops ist gelutscht" sind irgendwie ansteckend, findet die ZEIT-Journalistin und Jurorin Anna Kemper. Täglich könne man heutzutage ein Match sehen oder hören: "Da nerven Phrasen natürlich viel schneller."
André Hatting: Heute Abend geht es wieder los: erste Runde im DFB-Pokal, das Runde muss also wieder ins Eckige, denn jedes Spiel beginnt bei null und dauert 90 Minuten mindestens – kann man nur hoffen, dass es ein Auftakt nach Maß wird und es nicht hinten wieder lichterloh brennt, denn: Der Pokal hat seine eigenen Gesetze. So, das waren jetzt sechs blöde Fußballsprüche in zehn Sekunden. Ganz so schlimm treiben es die Reporter nicht, aber trotzdem scheint es so: Ausgerechnet der Fußball zieht die Phrase magisch an.

Warum das so ist, darüber möchte ich jetzt mit Anna Kemper sprechen. Sie schreibt für das "ZEIT-Magazin", hat von der EM berichtet und ist Mitglied der Fußballbuchjury, der Deutschen Akademie für Fußball-Kultur. Ja, so was gibt’s auch. Guten Morgen, Frau Kemper.

Anna Kemper: Guten Morgen.

Hatting: Warum ist die Phrase des Fußballs Freund?

Kemper: Ich weiß gar nicht genau, ob Sie jetzt speziell des Fußballs Freund ist. Ich glaube, sie fällt beim Fußball natürlich einfach besonders auf. Es gibt keine andere Sportart, die wir so oft sehen und über die wir so viel reden, über die wir so viel wissen. Ich glaube, da merkt man natürlich einfach schneller, wenn sich ein Kommentator in die Phrase flüchtet. Wenn man … Bei anderen Sportarten, ich glaube, da würde es uns ähnlich gehen, wenn wir die dauernd sehen würden.

Ich hab zum Beispiel vor einigen Wochen mal über eine Speerwerferin berichtet – das ist eine Sportart, von der ich gar keine Ahnung hatte, die auch technisch sehr kompliziert ist. Da findet man natürlich jedes Detail interessant. Wir gucken eben einfach nur einmal im Jahr Leichtathletik, da ist es für Kommentatoren auch leichter, phrasenfrei zu bleiben. Wir wissen über die Sportarten wenig, über die Akteure wissen wir nicht alles, es ist noch nicht alles gesagt, und das ist beim Fußball natürlich ganz anders.

Hatting: Haben Sie eigentlich den Eindruck, dass Fußballphrasen ansteckend sind?

Kemper: Ich glaube schon. Es gibt bestimmte Phrasen, die kommen auf und die halten sich auch hartnäckig. Zum Beispiel gibt’s diesen schönen Ausdruck – den haben Sie vorhin noch nicht erwähnt –, "der Drops ist gelutscht" …

Hatting: Das habe ich vergessen, stimmt.

Kemper: Das ist so eine Formulierung, die hört man eigentlich außerhalb des Fußballs überhaupt nicht, die wird kaum benutzt, aber aus unerfindlichen Gründen ist die irgendwie bei den Fußballkommentatoren in Mode gekommen und auch nicht totzukriegen. Anderes schönes Beispiel ist, wie ich ihn nenne, Fußballer-Indikativ. Stellen wir uns vor, ein Stürmer hat vorbeigeschossen, und dann sagen Kommentatoren ja oft "Wenn er da in die linke Ecke schießt" statt zu sagen "Wenn er da in die linke Ecke geschossen hätte". Das ist irgendwie, also ich glaube, das muss einfach ansteckend sein, jedenfalls reden alle Kommentatoren so und die Spieler mittlerweile auch.

Hatting: Sie haben in der Jury, die ich vorhin erwähnt habe, ein Buch vorgeschlagen, das die besten Hörfunkreportagen der letzten Jahre zusammenfasst. Was ist Ihr Eindruck, ist es besser geworden mit der Phrasendrescherei oder schlimmer?

Kemper: Ich glaube, es ist auf jeden Fall nicht besser geworden. Ich hab irgendwie das Gefühl, dass heute im Radio bei den Schlusskonferenzen, dass da einfach die Zeit, die zu dem Reporter geschaltet wird, kürzer ist als früher. Und wenn man natürlich weniger Zeit hat, um zu berichten, was da gerade auf dem Platz los ist, was passiert, um das zu schildern, dann liegt die Phrase natürlich einfach nahe. Die ist ja im Grunde dazu da, um kompliziertere Sachverhalte zu verkürzen oder zu vereinfachen.

Sie haben eben die Phrase genannt "Der Pokal hat seine eigenen Gesetze", da weiß einfach jeder sofort, was gemeint ist. Wenn ich stattdessen versuche zu sagen: "Im Pokal, da kommt es ja oft vor, dass die kleinere Mannschaft die größere schlägt, weil…" und so weiter und so fort, dann dauert das natürlich einfach wesentlich länger.

"Im Radio wird die Phrase eher verziehen"
Hatting: Neigen Fußballreporter im Radio stärker zur Phrase oder ist das eher umgekehrt?

Kemper: Das finde ich schwer zu sagen. Ich glaube, im Radio wird die Phrase einfach eher verziehen. Im Radio, wenn da der Fußballreporter was sagt, dann muss ich das ja erst mal in Bilder übersetzen, da bin ich schon mal ein bisschen beschäftigter. Außerdem weiß der Reporter ja auch immer mehr als ich, der ist mir immer einen Schritt voraus. Das erzeugt natürlich eine viel größere Spannung, als wenn ich das im Fernsehen sehe, und ich glaube, da ist man einfach nicht mehr so streng. Im Fernsehen dagegen, da sehe ich ja ganz genau, was Sache ist, und da weiß man natürlich gerne alles besser oder denkt, dass man es besser kann.

Hatting: Haben Phrasen heute eine kürzere Halbwertzeit als früher?

Kemper: Ich glaube schon. Wir sehen und hören einfach viel mehr Fußball als früher. Man kann ja praktisch jeden Tag, wenn man möchte, Fußball gucken, und da nerven Phrasen natürlich viel schneller.

Hatting: Welcher Sportreporter kann eigentlich für Ihren Geschmack am besten die Phrase vermeiden, ist also am ehesten phrasenfrei?

Kemper: Also ich hab im Radio – das ist schwer zu sagen – ich hab im Radio eigentlich am liebsten Günther Koch gehört. Ich weiß jetzt gar nicht genau, ob der phrasenfrei war, aber der hat einfach so emotional kommentiert, dass es total Spaß gemacht hat zuzuhören.

Hatting: Und die Phrase am Ende wahrscheinlich auch egal. Die Journalistin Anna Kemper, Mitglied der Fußballbuchjury bei der Deutschen Akademie für Fußball-Kultur. Ich sag mal so, Frau Kemper, danke für das Gespräch und nicht vergessen: Nach dem Spiel ist vor dem Spiel, ne?

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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