Wenn Elternliebe aus dem Ruder läuft
Die französische Psychoanalytikerin Caroline Thompson warnt Eltern in ihrem Buch „Die Tyrannei der Liebe“ vor einer Liebesfalle. Es sei eine Falle, die Regeln, Autorität oder Strenge nicht zulasse. Liebe tauge aber nicht als alleiniges Erziehungsmittel, denn sie sei viel zu ambivalent, komplex und oft auch tyrannisch.
Liebe ist wunderbar, keine Frage. Sie lässt uns die Welt rosiger sehen, gibt uns Kraft und macht uns stark. Aber Liebe verklärt auch den Blick. Unser Gegenüber erscheint uns einzigartig, unfehlbar, besonders begabt und wunderschön. Über Schwächen und Fehler sehen wir großzügig hinweg – so sehr lieben wir. Das alles ist normal, zumindest für die Anfangszeit der Liebe, dann lässt der Zauber nach, der Alltag beginnt und nicht selten ist die Ernüchterung so groß, dass Paare wieder auseinandergehen.
Anders aber ist das mit Kindern, so die französische Psychoanalytikerin Caroline Thompson in ihrem Buch über „Die Tyrannei der Liebe“. Denn gegenüber ihrem Nachwuchs erwachen die Eltern mitunter nie aus ihrem Liebesrausch. Das Kind wird zum Fixstern, zum alles beherrschenden Thema im Leben und – falls die Beziehung zum Lebensgefährten scheitert – nicht selten zum Liebespartner auf Lebenszeit.
Eltern, so warnt die Autorin, verfangen sich in der Liebesfalle. Eine Falle, die Regeln, Autorität oder Strenge einfach nicht zulässt, sie gar unmöglich scheinen lässt. „Welches Kind wird schon so geliebt wie du?“ Und so hoffen die involvierten Eltern, dass ihr Kind sich nur durch diese Liebe ohne Anstrengung und Zwang zu einem guten Menschen entwickelt. Schließlich sollen die Zöglinge den Eltern ein Leben lang verbunden sein, sie nie verlassen und die Liebe bedingungslos erwidern.
Doch so funktioniert das nicht. Ihre ernüchternde These gewinnt die Autorin aus eigener Erfahrung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Liebe als alleiniges Erziehungsmittel ist viel zu ambivalent, komplex und oft auch zu tyrannisch, denn zuviel Liebe kann ersticken, engt ein und schafft neue Abhängigkeiten. Nicht selten brauchen heute Eltern ihr Kind mehr zum Wohlfühlen, als dass die Kinder von ihren Eltern abhängig sind.
Eine Verkehrung hat stattgefunden. Eltern und Kinder sollen gleich sein, dieselben Interessen haben, sich ähnlich kleiden und die gleiche Musik hören. Das Wochenende wird nach den Interessen des Kindes ausgerichtet, Eltern turnen an viel zu kleinen Klettergerüsten rum, damit ihr Sprössling sich auch ja nicht langweilt. Die Interessen von Erwachsenen treten hinter die des Nachwuchses zurück.
Tauchen dann doch mal Probleme auf, dann wird sofort Rat bei Dritten gesucht, am besten bei Fachleuten, denn hinter einem Wutanfall vermuten die besorgten Eltern sofort eine tiefliegende Störung, der sie selbst nicht Einhalt gebieten können.
Die Elternschaft droht also aus dem Ruder zu laufen. Wer Chef ist und wer nicht, ist längst nicht mehr so selbstverständlich wie noch eine Generation zuvor. Dabei sind die Eltern selbst Opfer einer jahrzehntelangen Fehlentwicklung, wie die Französin anschaulich beschreibt.
In einem Kurzabriss der Kulturgeschichte zeigt sie: Mutterliebe ist eine Erfindung der Neuzeit. Bis zum 18. Jahrhundert, so Caroline Thompson, gab es sie schlichtweg nicht. Es ging einfach ums nackte Überleben, und da waren Erwachsene wertvoller als Kinder. Starben viele von ihnen doch auch jung. Deshalb interessierte man sich nicht für Kinder. Man gab sie – wenn möglich – zu Ammen und überließ die Erziehung anderen. Die Wende kam aus hygienischen Gründen. Um Krankheiten einzudämmen, wurden Mütter aufgefordert, selbst zu stillen. Das, so Thompson, läutete ein Umdenken ein. Das Kind rückt in den Mittelpunkt und wurde Forschungsschwerpunkt.
Philosophen entdeckten das Kind als von Natur aus gut. Mediziner und Psychologen lernten immer genauer die kindlichen Entwicklungsstufen kennen. Gab es früher nur die drei Lebensphasen Kind, Erwachsener, Greis ist heute allein schon die Kleinkindphase in mehrere Entwicklungsschritte unterteilt. Kindheit wurde Kult. Und wer möchte diesen Kult schon durch Regeln einengen oder gar das Potenzial seines genialen Nachwuchses zerstören? Und wieder schnappt die Liebesfalle zu.
Rezensiert von Kim Kindermann
Caroline Thompson: Die Tyrannei der Liebe. Wenn Eltern zu sehr lieben: Perfekte Erziehung und die Ambivalenz der Gefühle.
Aus dem Französischen von Ursel Schäfer,
Kunstmann, München, 2008, gebunden, 192 Seiten,
16,90 EUR
Anders aber ist das mit Kindern, so die französische Psychoanalytikerin Caroline Thompson in ihrem Buch über „Die Tyrannei der Liebe“. Denn gegenüber ihrem Nachwuchs erwachen die Eltern mitunter nie aus ihrem Liebesrausch. Das Kind wird zum Fixstern, zum alles beherrschenden Thema im Leben und – falls die Beziehung zum Lebensgefährten scheitert – nicht selten zum Liebespartner auf Lebenszeit.
Eltern, so warnt die Autorin, verfangen sich in der Liebesfalle. Eine Falle, die Regeln, Autorität oder Strenge einfach nicht zulässt, sie gar unmöglich scheinen lässt. „Welches Kind wird schon so geliebt wie du?“ Und so hoffen die involvierten Eltern, dass ihr Kind sich nur durch diese Liebe ohne Anstrengung und Zwang zu einem guten Menschen entwickelt. Schließlich sollen die Zöglinge den Eltern ein Leben lang verbunden sein, sie nie verlassen und die Liebe bedingungslos erwidern.
Doch so funktioniert das nicht. Ihre ernüchternde These gewinnt die Autorin aus eigener Erfahrung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Liebe als alleiniges Erziehungsmittel ist viel zu ambivalent, komplex und oft auch zu tyrannisch, denn zuviel Liebe kann ersticken, engt ein und schafft neue Abhängigkeiten. Nicht selten brauchen heute Eltern ihr Kind mehr zum Wohlfühlen, als dass die Kinder von ihren Eltern abhängig sind.
Eine Verkehrung hat stattgefunden. Eltern und Kinder sollen gleich sein, dieselben Interessen haben, sich ähnlich kleiden und die gleiche Musik hören. Das Wochenende wird nach den Interessen des Kindes ausgerichtet, Eltern turnen an viel zu kleinen Klettergerüsten rum, damit ihr Sprössling sich auch ja nicht langweilt. Die Interessen von Erwachsenen treten hinter die des Nachwuchses zurück.
Tauchen dann doch mal Probleme auf, dann wird sofort Rat bei Dritten gesucht, am besten bei Fachleuten, denn hinter einem Wutanfall vermuten die besorgten Eltern sofort eine tiefliegende Störung, der sie selbst nicht Einhalt gebieten können.
Die Elternschaft droht also aus dem Ruder zu laufen. Wer Chef ist und wer nicht, ist längst nicht mehr so selbstverständlich wie noch eine Generation zuvor. Dabei sind die Eltern selbst Opfer einer jahrzehntelangen Fehlentwicklung, wie die Französin anschaulich beschreibt.
In einem Kurzabriss der Kulturgeschichte zeigt sie: Mutterliebe ist eine Erfindung der Neuzeit. Bis zum 18. Jahrhundert, so Caroline Thompson, gab es sie schlichtweg nicht. Es ging einfach ums nackte Überleben, und da waren Erwachsene wertvoller als Kinder. Starben viele von ihnen doch auch jung. Deshalb interessierte man sich nicht für Kinder. Man gab sie – wenn möglich – zu Ammen und überließ die Erziehung anderen. Die Wende kam aus hygienischen Gründen. Um Krankheiten einzudämmen, wurden Mütter aufgefordert, selbst zu stillen. Das, so Thompson, läutete ein Umdenken ein. Das Kind rückt in den Mittelpunkt und wurde Forschungsschwerpunkt.
Philosophen entdeckten das Kind als von Natur aus gut. Mediziner und Psychologen lernten immer genauer die kindlichen Entwicklungsstufen kennen. Gab es früher nur die drei Lebensphasen Kind, Erwachsener, Greis ist heute allein schon die Kleinkindphase in mehrere Entwicklungsschritte unterteilt. Kindheit wurde Kult. Und wer möchte diesen Kult schon durch Regeln einengen oder gar das Potenzial seines genialen Nachwuchses zerstören? Und wieder schnappt die Liebesfalle zu.
Rezensiert von Kim Kindermann
Caroline Thompson: Die Tyrannei der Liebe. Wenn Eltern zu sehr lieben: Perfekte Erziehung und die Ambivalenz der Gefühle.
Aus dem Französischen von Ursel Schäfer,
Kunstmann, München, 2008, gebunden, 192 Seiten,
16,90 EUR