Wenn eine Jury das Leben verändert

Von Carolin Pirich · 23.06.2009
In der DDR absolvierte Gregor Sander eine Ausbildung zum Schlosser und zum Krankenpfleger. Später begann er ein Medizinstudium. Als er das Senats-Stipendium für Berliner Schriftsteller zugesprochen bekam, war für ihn die Entscheidung klar. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Berlin.
Die Panke fließt unauffällig vorbei. Bäume hängen ihre Zweige ins Wasser. Vogelgezwitscher. Sonst Stille. Es sieht aus wie in einem Dorf, nicht wie in einer großen Stadt. Hier, in einem ruhigen Teil des Berliner Arbeiterviertels Wedding, hat Gregor Sander sein Büro, in einer unsanierten Kneipe, die keine mehr ist. Aber es gibt noch den Tresen, die Zapfanlage, Barhocker und ein paar Tische.

An einem sitzt Gregor Sander jetzt, Jeans und Kapuzenpulli, hellblaue Augen hinter einer Brille mit schlichtem Rand, offenes Lächeln, Dreitagebart. Ein guter Ort für eine stille Arbeit.

"Hier gibt es keinen Internetanschluss, was für mich eine Grundbedingung war, wenn man die Möglichkeit hat, dann nutzt man es auch für unsinnige Dinge. Manchmal bremst es einen. Hier ist die Konzentration eine ganz andere, da muss ich mich mit mir beschäftigen. Ich muss schreiben. Oder wenn ich das nicht kann, dann beschäftige ich mich mit etwas, womit ich mich beschäftigen will."

Etwa mit seinen Bürokollegen, bildende Künstler. Hinter der ehemaligen Kneipe liegen die Arbeitsräume, Gregor Sanders Zimmer ist weiß getüncht, den Boden hat er hellgrau lackiert, es riecht noch nach Farbe. In den Räumen der Künstler türmen sich Farbtuben, Holzlatten, Landschaftsgemälde und Werke aus roten und grauen Plastikwulsten.

"Ich bin oft neidisch auf die, weil es so sichtbar ist, was die da machen. Der Sven hat eine Tischlerwerkstatt. Er hobelt, er sägt und malt und klebt. Man kann das sehen und anfassen. Wenn da noch drei Leute sitzen würden mit Laptops, das würde mir gar nicht gefallen."

Ein Schriftsteller muss etwas erleben, sagt Gregor Sander, jedenfalls etwas anderes als ein leeres Dokument auf dem Bildschirm, wenn es gefüllt werden soll. So gesehen wirkt es im Rückblick schlüssig, dass er erst eine Ausbildung zum Schlosser machte, dann eine zum Krankenpfleger und später zuerst Medizin und dann Germanistik studierte, bevor er mit 34 Jahren sein erstes Buch veröffentlichte. Aber Teil eines Plans war das nicht.

"Ich wäre weder Schlosser geworden, noch Krankenpfleger geworden, noch hätte ich Medizin studiert ohne die DDR. Das war alles nicht meins. Ich hab morgens um sieben auf der Baustelle gestanden, hab irgendwelche Gräben gegraben. So im Nachhinein war das gar nicht so schlecht. Ich weiß zumindest, wie eine Baustelle aussieht."

In seinem Roman "Abwesend” ist die Hauptfigur ein Berliner Architekt, der wie Gregor Sander aus Schwerin stammt. Nach einer Lesung fragte ihn jemand einmal, ob er denn jetzt wieder als Architekt arbeite. Das freue ihn, sagt er, seine Geschichten sollen echt wirken. Wo ein Teil seines Lebens in die Texte fließt, kann er nicht sagen. Nur rückblickend vielleicht, im Rückblick erscheint vieles einleuchtend.

"Es hat immer alles mit allem zu tun, ich nutze auch Realität, aber ich schreibe die Realität nicht ab, das würde mich auch langweilen."

Geschrieben hat Gregor Sander schon früh, mit 16, kleine Erzählungen, nur für sich. Schriftsteller, das wäre doch etwas, hat er damals gedacht, aber lange nicht gesagt. Aufgewachsen ist er in Schwerin, der Vater Arzt, die Mutter Bürokauffrau. Dann kam die Wende. Gregor Sander zog nach Berlin zum Studium. Das war 1990. Alles schien möglich, man ließ sich treiben, schien sich für nichts entscheiden zu müssen.

"Das liegt ein bisschen an der traumwandlerischen Zeit nach 89, diese ersten 5, 6 Jahre, wo das ein Riesen-Spielplatz war, billig war, man konnte einfach in den Tag hinein leben.

Man sagt ja, 30 ist so ein entscheidendes Jahr. Bei mir war das auch so."

Da bewarb er sich mit vier Erzählungen um das Senats-Stipendium für Berliner Schriftsteller. Man kann sagen, dass es eine Jury war, die die Entscheidung für ihn getroffen hat, wo es hingehen soll in seinem Leben.

"Und das war toll, aber auch verwirrend. Dann habe ich das damit ernster genommen und mich sehr viel mehr darauf eingelassen."

Das nächste Stipendium folgte an der Akademie Schloss Solitude in Stuttgart. Das erste Buch erschien, der Erzählungsband "Ich aber bin hier geboren”. Der Ton etwas trotzig und irgendwie schwebend. Ein wenig erinnern seine Erzählungen an die der Berliner Autorin Judith Hermann. Gegen den Vergleich wehrt er sich nicht.

"Judith ist die Ikone unserer Generation, ob man will oder nicht, ob man den Begriff Generation nun mag oder nicht. So wie man Erzählungen schreibt, wird man mit ihr verglichen, und da ich sie sehr mag, fällt mir das leichter."

Vor zehn Jahren tauschten sie für einen Tag ihre Leben, ihre WG, ihre Telefone, rauchten die Zigaretten des anderen. Gregor Sander als Judith Hermann, Judith Hermann als Gregor Sander. Beide schrieben dazu einen Text, aber nur der von Judith Hermann wurde in einer großen, überregionalen Zeitung nachgedruckt. Sie hatte damals, etwa 30 Jahre alt, gerade ihr erstes Buch veröffentlicht, "Sommerhaus, später”.

Zu dieser Zeit hatte Gregor Sander gerade entschieden, Schriftsteller zu sein. Heute ist er 41, hat eine Familie mit einem kleinen Sohn und hat zwei Bücher veröffentlicht. Gerade arbeitet er am dritten, hinter der ehemaligen Kneipe im Wedding. Worum es geht, das darf er bis zum Wettbewerb nicht verraten. Nur so viel: Es wird ein Erzählungsband, wie das erste.