Wenn die Zeit nicht vergeht

Von Lasse Ole Hempel und Moritz von Wissel · 02.03.2009
Seit zehn Jahren enden manche "Lebensspuren" im badischen Emmendingen, genauer im Deutschen Tagebucharchiv. Die Historikerin Frauke von Troschke gründete es, wollte den "Geschichten von unten" einen dauerhaften Ort der Aufbewahrung und der Kenntnisnahme schaffen. Bislang wurden über 1450 autobiographische Einsendungen aufgenommen - Memoiren, Briefwechsel, Lebenserinnerungen, Tagebücher.
"Hier in der Vitrine ist ein bisschen was zu sehen, wir könnten ganze Räume mit Vitrinen füllen und schönen Dokumenten … das ist hier ist etwas Interessantes. Das ist eine Rolle, die hat ein Soldat im Ersten Weltkrieg bemalt. Die ist 68 Meter lang und es kommen 1200 Personen vor. (…) Sehen Sie sich mal die Zeichnungen an, es ist immer wieder anders, es wiederholt sich nichts. Das ist natürlich ein regelrechter Schatz."

Frauke von Troschke zeigt stolz die in Emmendingen in einer Vitrine ausgestellte kleine Sammlung an besonders ausgefallenen Tagebüchern. Sie hat dieses deutschlandweit einzigartige Archiv 1998 gegründet und leitet es seitdem. Entscheidend war für sie eine Reise in die Toskana, ins italienische Städtchen Pieve Santo Stefano, wo das älteste Tagebucharchiv der Welt beheimatet ist. Angeregt durch dieses Vorbild gründete die ehemalige Stadträtin in Emmendingen das Deutsche Tagebucharchiv.

"Es war eine dpa-Meldung damals: 'In Emmendingen hat sich ein Tagebucharchiv gegründet.' Und die Dokumente kamen vom ersten Tag an ziemlich zuhauf. Wir waren eigentlich gar nicht richtig vorbereitet. So dass wir auch gucken mussten, dass wir das alles auf die Beine stellen und damit da auch nichts schief läuft (…) Das musste dann alles hopplahopp passieren und das ging tatsächlich alles, mit deutscher Gründlichkeit und Schnelligkeit unglaublich gut."

Mittlerweile lagern ungefähr 6000 Originale im Tagebucharchiv, das kurz nach der Gründung in das ehemalige Rathaus der Stadt Emmendingen ziehen durfte. Ein klassisches Gebäude, das man in Miniatur in eine typische Modelleisenbahnlandschaft stellen könnte. Die Räume sind zum Teil holzvertäfelt, an den Wänden hängen noch alte Ortswappen, der Dielenboden knarrt behaglich. Im großzügig geschnittenen, ehemaligen Bürgersaal organisiert das Archiv Lesungen und Veranstaltungen. Die Originale lagern im Speicher unter dem Dach, die vielen im Archiv verstreut aufgestellten Metallschränke sind überfüllt mit den Kopien, die als Arbeitsgrundlage dienen. Insgesamt strahlt das Archiv keineswegs eine hermetische Ruhe aus. Es wird geredet, sortiert, sich ausgetauscht, das Telefon klingelt. Forscher und Besucher stehen manchmal unangemeldet vor der Tür.
Kriegstagebuch aus Russland 1941:
"12.09.41
Weiser gefallen, Homolka verwundet.
Strömender Regen.
Die Ortschaft Smolesch wird genommen.
Wieder starkes MG- und Geschützfeuer.
Zwei Lkw werden erbeutet. Im knietiefen Schlamm und stockfinsterer Nacht."

Alexandra B. - Aufzeichnungen einer Studentin1995:
"Montag, 22. Mai
Dieses ungewisse Warten ... Ich verfluche das System und die Unterbesetzung an den deutschen Unis. Ich glaube, die Leute, die Stellen wegkürzen und all die Regeln aufstellen, können sich lange nicht mehr vorstellen, was es bedeutet allein gelassen zu sein. Die Profs sagen nichts, das Amt darf nicht ... Die ständige Anspannung geht auf Geist und Nerven - und fördert ein entspanntes Prüfungsumfeld auf keinen Fall."

Inge Sturm – Erinnerungen an meine Kindheit:
"Als mein Vater aus der Gefangenschaft wieder nach Hause kam, hatte er sich doch sehr verändert. Er hatte oft schlechte Laune. Auch wollte er sich nicht gerne mit mir unterhalten. Es war 1947 und ich war inzwischen zwöl Jahre alt."

von Troschke: "Die Leute hören von uns, dann erkundigen sie sich erstmal: Was sind das für Leute? Wer ist das? Die wenigsten kommen her und sagen: 'Hier habt ihr meine Sachen' … die informieren sich. Wo sie, wie sie selber formulieren, ihr geschriebenes Leben abgeben. (…) Die wollen natürlich auch wissen, was damit passiert. Das wollen sie ziemlich genau wissen. (…) Dann machen wir mit jedem einen urkundlichen Vertrag, urheberrechtliche Fragen müssen ja geklärt werden. Was dürfen wir machen? Dürfen wir lesen? Wenn es veröffentlicht wird ... will der Schreiber informiert werden oder nicht? Will er in irgendeiner Form beteiligt sein? Was will er überhaupt nicht? Will er anonymisiert werden oder nicht?"

Im weiteren Verlauf wird das Tagebuch eingeordnet und in die Datenbank des Archivs eingearbeitet. Hier sind die ehrenamtlichen Mitarbeiter unerlässlich: Alte Schriften müssen transkribiert werden, das Tagebuch wird Seite für Seite kopiert, gebunden und einem Leser zur Verfügung gestellt, der anhand eines standardisierten Formulars das Tagebuch beurteilt und beschreibt.

"… und die bekommen einen Erfassungsbogen an die Hand und das ist ja eigentlich so das Herz (...) In welcher Zeitspanne seines Lebens hat er geschrieben? Kommen besondere Persönlichkeiten vor, historische Ereignisse … und dann angelehnt an ein Bibliotheksprogramm die ganzen Schlagworte plus eine Zusammenfassung des Textes (...) Arbeit, wirklich Arbeit."

Leser 1: "Ich habe ein Dokument, das ist ein Tagebuch aus einem amerikanischen Internierungslager ist, zwischen ‘45 und ‘46. Der Autor ist von Beruf aus Jurist, er war auch schon Soldat 1914/18, er ist 1896 geboren, studiert dann während des Ersten Weltkrieges, ist dann 1933 Hilfsrichter am Volksgericht in Berlin, dann ’39 am Kammergericht in Berlin und 1940 wird er Feldsgerichtsrat bei dem Oberkommando der Wehrmacht. Und in dieser Funktion als Kriegsgerichtsrat bei der Abwehr kommt er dann auch 1945 in amerikanische Gefangenschaft."

An einem Abend im Monat trifft sich die Lesegruppe im Tagebucharchiv. Die Leser haben sich zuhause eingehend mit den Tagebüchern beschäftigt und stellen nun in kleiner Runde ihre Ergebnisse vor. Die meisten wohnen in der unmittelbaren Umgebung von Emmendingen und haben einen akademischen Hintergrund, Historiker und Germanisten bilden die Mehrheit. Einige haben bestimmte Vorlieben, interessieren sich etwa besonders für den Zweiten Weltkrieg oder die DDR, oftmals müssen sie sich aber auch durch zähe Materie kämpfen.

Leser 2: "Nicht alles ist interessant - mir fallen da zwei Sachen ein, die ich vorgestellt habe: Das eine waren zwei Bände von je 150 Seiten, von einem Mann, der nur über seine Erlebnisse mit seinem Hund geschrieben hat. Jede Begegnung mit einem anderen Hund - jede Verhaltensweise von anderen Hunden, die er für falsch einschätzt ... 'Neues über Arcor und meinen Hund' (...) Ein anderes Beispiel (...): tägliche Notizen einer Schweizer Hausfrau aus Zürich, die halt jeden Tag notiert hat, was sie gekocht hat, wann sie Wäsche gemacht hat, welchen Spatziergang sie gemacht hat, welche Tante sie besucht hat - über 15 Jahre hinweg."

Ganz gleich wie unbedeutend oder langweilig das jeweilige Tagebuch dem Leser erscheinen mag: Am Ende erstellt er den Erfassungsbogen mit Angaben zur Biographie des Autors und zum Charakter des Textes und bestimmt damit, unter welchen Kriterien und Schlagwörtern anschließend das Tagebuch oder der Lebensbericht archiviert und somit der Forschung zugänglich gemacht wird.

Leser 3: "Unsere Aufgabe besteht darin, dass wir rausfiltern: Was könnte anderen wertvoll erscheinen? Erstmal die Frage der Plausibilität: Kann es stimmen, was der da in seinen Erinnerungen schreibt? In Tagebüchern ja nicht, das ist ja authentisch. In Erinnerungen ist immer die Frage: Kann das stimmen? Wurde etwas umformuliert? Und dann ist natürlich die Hauptfrage: Was ist wichtig für diejenigen, die das mal aus irgendeinem Grund benutzen könnten? Deswegen auch diese Erfassungsbögen."

Name: Strunk, Evamaria
Geboren am: 1928/01/13. Geboren in: Reichenbach, Eulengebirge
Ausbildung und Beruf: Ausbildung zur Schneiderin, Direktrice, Buchhändlerin
Niederschriftanlass: Flucht aus Schlesien
Themen: Flucht / Zweiter Weltkrieg / Pubertät/ Liebe / Schönheitspflege
Anmerkung: Stenoblock enthält Propagandasprüche "Feind hört mit"; die Seiten 44-62 sind unleserlich und hier nicht vorhanden.

Strunk liest aus ihrem Tagebuch: "Ich kann dir seitenlang schreiben, wie wenig hier ist. Dass es meistens Familienkrach gibt oder Ärger oder sonst was. Oder ich kann dir kurz sagen: Es ist für mich traurig. Mit 17 Jahren ist man ja nicht wählerisch: Man findet an vielem Freude und Abwechslung. Aber meistens wenn mehr Jugend zusammen ist. Und die fehlt hier ganz. Es gibt Burschen und Mädel, die grob und ungeschlachten reden. Und die nur an intimen Verkehr untereinander denken. Und meistens Schweinerein im Sinn haben. Dafür sind wir hier auch auf dem Dorf. Gibt auch anständige Mädel, sehr selten, aber die haben eben auch einen kleinen Gesichtskreis. Ich verstehe nicht, wie ich es hier schon fünf Monate ausgehalten habe. Zurzeit bin ich so weit, dass ich sage: Jetzt geht nichts mehr. Wenn ich für mich mal allein bin, dann fühle ich mich so allein, dass mich wieder eine Sehnsucht packt, die kaum zu bändigen ist. Sehnsucht, nicht nach der Heimat, wie Du denken wirst. Nein, einfach nach Leben. Das ist nicht das Leben, das für uns da ist. Das ist ein Schleichen durch die Zeit. Immer wenn dann einer dieser Tage wie der andere vergangen ist, könnte ich am Abend dann im Bett schreiben: Wieder ist ein Tag der schönen Jugend vorbei, ohne etwas zu bringen."

Evamaria Strunck ist heute 81 Jahre alt und auch ein bisschen stolz auf jenes Tagebuch, das sie 1945 im Alter von siebzehn Jahren auf einen Stenoblock geschrieben hat. Damals hatte es sie und ihre Familie auf der Flucht vor den Bomben und Tieffliegern in den bayrischen Wald verschlagen. Drei Monate lang hält sie ihre Gefühle und Gedanken fest. Dann hört sie mit dem Tagebuchschreiben auf. 1987 lebt sie bereits 20 Jahre in Emmendingen, als einer ihrer beiden Söhne drogenabhängig wird und schließlich Selbstmord begeht. In ihrer Not, unfähig eine Erklärung für das Ganze zu finden, beginnt sie erneut mit dem Schreiben.

Strunk liest aus ihrem Tagebuch: "Ich habe da einfach nicht mehr gekonnt … und manche Probleme kann man nicht mit Fremden lösen. Sie müssen erstmal selber den Überblick bekommen, Sie müssen erstmal selber erfahren, was es bedeutet. Ich habe zwei Söhne und der eine geht plötzlich Wege, an die Sie nie gedacht haben. (...) Dann habe ich angefangen und bis heute … ohne meine Bücher. Dann gucke ich da mal nach … ich schreibe nicht jeden Tag so irgendwas, das schreibe ich in meine Kalender. Aber Tagebuch … das ist einfach mehr: mich frei machen, von meinen Emotionen. Ich habe Emotionen (…) Ich kann weinen und lachen … und ich kann anderen Leuten etwas rüber geben, aber manchmal habe ich niemanden, wo ich’s kann und dann sind die Bücher da."

Evamaria Strunk lebt förmlich mit ihren Tagebüchern – ein halbes Dutzend Bände sind es über die Jahre geworden, die – sorgsam eingebunden – ihren festen Platz auf einer Anrichte im Wohnzimmer haben. Frau Strunk gehört zu den Gründungsmitgliedern des Tagebucharchivs, das anfangs im Breisgau eher skeptisch aufgenommen wurde und das auch heute trotz prominenter Lage im historischen Stadtkern längst nicht allen Emmendingern bekannt ist.

Strunk: "Ich habe manchmal das Gefühl, wenn ich sage, ich muss zum DTA ... 'Ach so, Du bist ja da integriert'. Immer noch so ein bisschen … na ja. Ich weiß nicht, warum die Einheimischen sich so schwer tun, wenn da etwas Neues entsteht und von außen jetzt eine größere Aufgeschlossenheit da ist. Das finden Sie nicht nur in Emmendingen, das ist in vielen Städten so. (…) Es wird jetzt mehr angenommen, weil es nun mehr im Mittelpunkt steht. Es gibt ja kaum ein Journal, das nichts über uns gebracht hat. (…) Die Wichtigkeit ist wohl durchgedrungen. Ich denke, wir könnten von den Einheimischen mehr erwarten."

Bei internationalen Forschern haben sich die Qualitäten des Tagebucharchivs längst herumgesprochen. Britische Historiker reisen häufig an, aber auch Wissenschaftler aus Japan oder Spanien nutzen den Fundus des Archivs. Geforscht wird beispielsweise über "Frontberichte deutscher und britischer Soldaten", "Reiseaufzeichnungen wandernder Handwerksgesellen" "Freundschaften zwischen Frauen im 19. Jahrhundert” oder die "Entwicklungstendenzen jugendlicher Sprechweisen seit 1950". Dabei beschränkt sich das Archiv nicht nur darauf, alte Dokumente der Wissenschaft zugänglich zu machen, sondern will auch als Schnittstelle fungieren, als wichtiger Knotenpunkt, an dem die Kunst des Tagebuchschreibens lebendig gehalten wird. So lud das Archiv im November 2008 zu den Ersten Emmendinger Autobiographietagen, bei denen auch Martin Walser aus seinen Tagebüchern las.

200 Tagebücher aus dem Fundus stellt das Archiv der Ausstellung "absolut privat – vom Tagebuch zum Weblog" zur Verfügung, die vom 20. März an im Berliner Museum für Kommunikation zu sehen ist. Hier wird das klassische Tagebuch anderen modernen Formen der Kommunikation und Erinnerungskultur wie dem Weblog gegenüber gestellt. Für Frauke von Troschke, die Leiterin des Emmendinger Tagebucharchivs, prallen hier Welten aufeinander.

von Troschke: "Wir wollen mit Weblogs nichts zu tun haben, weiter – das ist nicht unser Teil ... für uns ist das kein Tagebuch – es ist was völlig anderes. (…) Tagebuch schreibt man mit sich selber – und ein Weblog setzt man ins Netz und will ’ne Antwort haben und man schreibt im Bewusstsein der andere liest das – und dann hat sich ja herausgestellt , dass (…) es auch kaum Weblog-Schreiber gibt, die über lange Zeit dabei bleiben … also wie bei uns, dass man vierzig oder sechzig Jahre geschrieben hat, das ist beim Bloggen wohl auch nicht der Fall."

Nowak: "Wir kriegen ja auch gar nicht mit, wer sein Tagebuch immer wieder neu anfängt und es bleibt dann im Juni ungeschrieben. (...) Das hat was mit Sichtbarkeit zu tun. Wenn es im Internet ist, dann kann ich es sehen, dann kann ich es nachprüfen. Und beim Buch ... also wie viel Leute hören im Jahr mit ihrem Tagebuch auf und fangen ein neues an?"

Tine Nowak hat gemeinsam mit Christiane Holm und Eva Bös die Ausstellung "absolut privat" kuratiert, die Tagebücher und Weblogs als zwei einander ebenbürtige Medien in einer wohnzimmer-ähnlichen Atmosphäre präsentiert und vergleicht: Die Möbel sind mit Filz überzogen und der Besucher findet auf dem Boden eine Chronologie von 365 Tagen, denen jeweils ein Zitat aus einem Tagebuch oder Weblog zugeordnet ist.

Nowak: "Wie funktioniert Tagebuchschreiben? Und haben geguckt, was die Literatur bislang dazu geschrieben hat. Und haben das einfach auch mit den neuen Medien komplett überdacht. Deshalb haben wir auch versucht, so ein neues Bild des Tagebuchs zu zeigen, das nicht dieses intime Schreiben nur ist, nicht nur dieses therapeutische Schreiben, diese Introspektion. Sondern wirklich dass es um dieses Verschriftlichung des Tages, des Alltags, das rhythmische Schreiben, Schreibdisziplin ... wirklich diese Tagesschriften sind. Und die können sowohl nach innen als auch nach außen gehen, egal, ob auf Papier oder im Netz."
Tine Nowak schätzt das klassische Tagebuch, betreibt selbst gleich mehrere Weblogs und meint, dass diesem Medium noch mit zu vielen Vorurteilen begegnet wird.

Nowak: "Wenn man mit älteren Tagebuchschreibern spricht, das hatten wir auch bei Führungen: 'Da exponiert sich doch jemand, da will sich jemand darstellen. Das ist doch vulgär!' Da muss man auch mal zeigen: Ja, schauen Sie doch mal – das ist nicht so, man stellt sich eben nicht mit seinem Bett ins Internet. (...) Bloggen ist ein bisschen wie andere Leute in sein Wohnzimmer lassen. So wie wenn Gäste kommen. Man weiß, die andern kriegen etwas von einem mit, aber man zeigt nicht alles. Man lässt die Leute quasi nicht in sein Schlafzimmer rein. Gibt es vielleicht auch, so solche letztlich ganz intimen Einblicke, aber meistens bleibt man im Wohnzimmer."

Wer im Netz schreibt, dem ist bewusst, dass andere das Geschriebene lesen und womöglich sogar kommentieren werden. Doch Bloggen steht auch für ein mitunter tägliches selbstdiszipliniertes Schreiben – eine Qualität, die auch dem klassischen Tagebuch zugute kommt. Tatsächlich wird das Weblog wohl vorerst nicht das Tagebuch ersetzen.

Unteroffizier Kieweg – Kriegstagebuch aus Russland 1941
"12.09.41
Drei unserer Pferde wurden buchstäblich zerfetzt. Ich hatte dabei großes Glück.
Der Angriff geht weiter; mit den Geschützen durch einen tiefen Fluss, Richtung Alexandrovka."

Harald M.- Eine Autobiographie mit Tagebuchaufzeichnungen 2001/1983:
"29.05.83
Nun noch ein Paar Worte zu der Art Liebe, welche ich für Anke empfinde. Ich liebe sie natürlich, wie man eine Frau liebt. Aber dieses stete Hoffen lässt diese Liebe bestehen. Hörte dieses Hoffen einmal auf und würde zur Erfüllung, käme nach und nach die Gewöhnung und somit das Erkalten der Liebe."

Beate R.: "Ich habe sehr gern, wenn Pippo ‚Beate’ zu mir sagt. Es ist schön, dass ich mit Berührungen mit Männern noch nicht abgedroschen bin; denn den angenehmen Druck seiner Hand zu fühlen, macht mich glücklich und zufrieden. Bis zum 9. April werde ich Pippo nicht mehr sehen, Die Zeit wird vergehen wie in den anderen Ferien auch. Hoffentlich bleibt alles beim Guten!"

Auch heute geben noch junge Menschen ihre Erinnerungen und Notizen im Deutschen Tagebucharchiv in Emmendingen ab. Die Dinge erstmal nur mit sich selbst auszumachen – mit einem imaginierten Gegenüber statt mit einem realen Computernutzer im Netz, macht das Tagebuchschreiben heute zu einer besonderen, weil intimen Schreibtechnik. Die Rechhaltigkeit dieser besonderen Form der Kommunikation, die historische Bedeutsamkeit der so entstandenen Dokumente pflegt das Tagebucharchiv in Emmendingen. In der beschaulichen Ruhe der kleinen Kreisstadt vor den Toren Freiburgs bringen die Mitarbeiter des Archivs tagtäglich die Geduld auf, den Menschen beim Denken zuzuhören.


Hinweis:Gegenwärtig reisen 200 Tagebücher aus dem Deutschen Tagebucharchiv im Rahmen der Ausstellung "absolut privat – von Tagebuch zum Weblog" durch Deutschland. Zu den Exponaten gehören auch wertvolle Tagebücher von Schriftstellern wie Franz Kafka, Virginia Woolf oder Johann Wolfgang von Goethe. Nach Stationen in Frankfurt und Nürnberg ist die Schau ab dem 20. März im Berliner Museum für Kommunikation zu Gast. Sehr zu empfehlen ist auch der äußerst liebevoll gestaltete, mit vielen Textbeispielen illustrierte Ausstellungskatalog. Die Ausstellung ist bis zum 30. August zu sehen.