Wenn die Vorbilder fehlen

Von Hajo Schumacher |
Jeden Mittwochmittag, wenn Karl aus der Schule kommt, gibt es eine neue Geschichte vom Physiklehrer Schneider. Diesmal war Herr Schneider die ganze Stunde damit beschäftigt, einen Versuch aufzubauen, der die Wasserverdrängung erklärt. Am Ende hat das Experiment nicht geklappt, weil ein Ablaufventil undicht war. Dafür schwamm der Physikraum. Herr Schneider versuchte die Flut mit dem Tafelschwamm zu stoppen. Karl und seine Mitschüler johlten vor Vergnügen. Für Siebtklässler ist das ganze Leben eine Comedy-Show, insbesondere wenn es um Missgeschicke von Lehrern geht.
Herr Schneider ist ein Fossil an Karls Gymnasium. Seine pädagogischen Fähigkeiten sind begrenzt, umso größer ist seine Begeisterung für das Experimentiergerät. Alle Schüler lauern darauf, dass etwas schief geht. Die Hoffnungen werden jedes Mal erfüllt.

Physik, das ist für Karl und seine Mitschüler eine brachiale Art der Unterhaltung, bei der es manchmal knallt, aber selten etwas funktioniert. Ihre Vertreter sind oft verschrobene Vögel mit komischen Brillen und Schmauchspuren am Sakko, ein Sinn ihres Tuns ist nicht erkennbar. Wo begegnen einem Teenager heutzutage schon Physiker? Fast immer als verrückte Professoren, so wie "Z", jener Halbirre, der für James Bond nukleare Kleinwaffen erfindet. Aber nie als ernste, kompetente, erfolgreiche oder gar coole Typen.

Welchen gesellschaftlichen Anreiz gibt es überhaupt, eines Tages Naturwissenschaftler werden zu wollen? Wer die Unterstufe eines Gymnasiums fast bewältigt hat, möchte es später mal zum Profi-Sportler bringen, zum Archäologen wie Indiana Jones, zum Designer von Computerspiel-Landschaften und vielleicht auch zum Popstar. Für jeden dieser Berufe gibt es Vorbilder, meist aus dem Fernsehen oder der eigenen Umgebung. Physik wird im Fernsehen von einem Comedian vorgeführt. Weshalb der Berufswunsch am Ende der Sendung nicht "Naturwissenschaftler" lautet, sondern "Wigald Boning".

Der dreizehnjährige Karl ist für einen technischen Beruf ohnehin so gut wie verloren. Denn er hat das Pech, einen Geisteswissenschaftler zum Vater zu haben. Dem machen Steckdosen bis heute Angst, physikalische Formeln sind ihm seit jeher ein Rätsel. Jede Fachfrage, die über den Informationsgehalt von Was-ist-was-Büchern hinausgeht, gefährdet die väterliche Autorität. Folglich wird der technisch-naturwissenschaftliche Komplex ignoriert.

Diese Haltung hat ihre Geschichte. Und die ist 20 bis 30 Jahre her. Damals hatten die Geistes-, vor allem aber die Gesellschaftswissenschaften Konjunktur. Politologie, Pädagogik, Psychologie, Journalistik, Soziologie, Kunstgeschichte, Medienkunde und ihre vielen bis heute entstandenen Ableger waren für viele Studienanfänger attraktiv. Denn diese Fächer boten das, was der Marketingexperte heute als "niedrigschwellige Einstiegsangebote" bezeichnen würde: Wissenschaft, die keine Angst macht und das Risiko des Scheiterns minimiert, weil es selbst in der heikelsten Prüfungssituation immer noch jenen rettenden Monolog gibt, der mit "Ich finde..." beginnt.

Warum sich mit einer schwierigen Naturwissenschaft herumschlagen, wenn es den Abschluss auch mit weitaus weniger Mühe gibt. Und wer es mit dem Politikstudium nicht zum Minister bringt, kann zur Not immer noch Journalist werden.

So entstanden die ersten naturwissenschaftsfreien Familien. Und es wurden immer mehr. Die Werte verschoben sich. Wer gesellschaftskritisch dachte, sprach und schrieb, galt als Krone der Forschung. Der Naturwissenschaftler dagegen wurde ein bisschen bemitleidet für seine Eindimensionalität oder vorsorglich diskriminiert als Gefahr für den Weltfrieden oder ein Öko-System. Endgelagert wurde er in einsamen Labors oder wie Herr Schneider als putziges Fossil im Lehrbetrieb.

Für den naturwissenschaftsfrei sozialisierten Menschen wird Forschung und Technik erst dann spannend, wenn sie Aussicht auf einen gesellschaftlichen Konflikt versprechen und es mithin zur Feuilleton-Debatte geschafft haben. So erging es der Hirnforschung, der Demographie oder der Humangenetik. Nie drehte sich die Debatte um die Technik selbst, aber immer um ihre Folgen. So haben wir es in den letzten 30 Jahren gelernt und an unsere Kinder weitergegeben. Murphy statt Newton.

Wenn man überzeugt ist, dass das Lernen am Modell existiert (und welche Eltern wären das nicht?), dann ist Karls Familie prototypisch für dieses deutsche Wissenschafts-Dilemma. Der Junge kann sich gar nichts abgucken. Er kann keine Begeisterung teilen. Denn es gibt kein Modell. Wir sind eine von Millionen technikfreien Familien. Es existiert kein Chemie-Baukasten, sondern nur ein blecherner Werkzeugkoffer, der ein Ensemble schartiger Instrumente beherbergt, die längst Beute des Flugrosts geworden sind. Die Regale biegen sich unter hundert Werken von tausend Denkern. Aber es ist kein einziger Konstruktionsplan darunter. Was Pädagogen als Beobachtungslernen oder Imitationslernen bezeichnen, kann bei Karl nicht stattfinden. Es gibt nichts zu beobachten, nichts zu imitieren, nichts zu lernen.

Dieses Dilemma ist nicht mit Werbekampagnen des Forschungsministeriums zu lösen. Die haben sich sowieso wieder nur Gesellschaftswissenschaftler ausgedacht. Es ist viel einfacher. Herr Schneider braucht nur Handy, iPod und eine DVD mit dem legendären Fallrückzieher von Klaus Fischer. Wie funktioniert SMS? Warum passt soviel Musik in ein so kleines Kästchen? Welche Kräfte wirken beim perfekten Tor? Mit solchen Fragen begeistert er Karl und seine Kumpel garantiert für Technik. Und seine Eltern vielleicht auch noch.

Hajo Schumacher schrieb nach Abschluss der Münchner Journalistenschule für die "Süddeutsche Zeitung". Dann arbeitete er rund zehn Jahre beim "SPIEGEL", zuletzt als stellvertretender Leiter des Berliner Büros und stellvertretender Ressortleiter Deutsche Politik. Anfang 2001 wurde Hajo Schumacher Chefredakteur von "Max". Nach seinem Ausscheiden arbeitet er jetzt als freier Journalist.