Wenn die Realität die Fiktion überholt

Von Dorothea Westphal |
Der britische Schriftsteller Ian Mc Ewan beschreibt in seinem jüngsten Roman "Saturday", wie die allgemeine Angst und Verunsicherung nach dem 11. September 2001 das Leben eines Londoner Neurochirurgen und seiner Familie beeinflussen. Die Hauptfigur erwartet ständig einen Anschlag. Durch die jüngsten Ereignisse in London wurde McEwans Fiktion von der Wirklichkeit überholt. Dorothea Westphal hat Ian McEwan auf seiner Lesereise in Berlin getroffen.
Ian McEwan: "Die Realität hat einen ähnlichen Verlauf genommen wie die Fiktion; die Anschläge in London kamen ja nicht überraschend. Wir hatten sie seit langem erwartet. Am Schluss des Romans sagt die Hauptfigur, dass London auf seine Bomben warte. Also ist auf deprimierende Weise eingetreten, was wir schon wussten. Und doch war der 7. Juli ein Schock."

Ein besonderer Schock, weil die Stadt sich gerade in einer Hochstimmung befand: Die Zusage für die Ausrichtung der Olympischen Spiele 2012 war zwei Tage her, in Schottland tagte der G 8-Gipfel und im Hyde Park hatte es das Live-8-Konzert "Gemeinsam für Afrika" gegeben. Nach dem Schock auf die Anschläge kam die Wut:

"Ich war wütend. Natürlich fanden viele, dass die Regierung schuld war, weil wir Truppen im Irak stationiert haben. Aber daraus folgt doch nicht, dass man seine Mitmenschen töten kann. Das Ganze war unlogisch. Also war ich zunächst mal wütend. Dann traurig, und jetzt warten wir auf das nächste Attentat."

Ian McEwan spricht auch über dieses Thema, das ihn emotional sehr bewegt, eher verhalten. Auf eine sehr britische Art zurückhaltend wirkt der schmale 57-jährige Schriftsteller. Emotionen zeigt er allenfalls in der Gestik, wenn er sich wiederholt durch die dunklen, grau melierten Haare fährt. Die Augen hinter der feinen Brille scheinen genauer zu sehen als andere - quasi hinter die Dinge und Menschen.

McEwan: "Die Stimmung war die von verhaltener Nervosität. Kurz nach den Anschlägen gab es ein Problem mit einem Bus. Der Motor rauchte. Es war einer dieser Busse mit offenem Verdeck und die Leute sprangen herunter, sobald sie den Rauch rochen. So angespannt war die Atmosphäre."

Henry Perowne, die Hauptfigur in McEwans Roman "Saturday", ist 48, erfolgreicher Neurochirurg, glücklich verheiratet und Vater von zwei erwachsenen, künstlerisch begabten Kindern. Ein zufriedener Mann, dessen Glück dadurch einen feinen Riss bekommt, dass er sich in einem Zustand der Verunsicherung befindet, seit der 11. September 2001 die westliche Welt erschüttert hat. Als er früh morgens vom Fenster seines Schlafzimmers zufällig ein brennendes Flugzeug beobachtet, denkt er sofort an einen Terroranschlag:

"Dass er in seinem Privatleben glücklich ist, war die Voraussetzung dafür, dass er mental frei ist, um sich über andere Dinge Gedanken machen zu können. Ich wollte keine Parallele schaffen zwischen häuslichem Unglück und internationalen Problemen. Ich wollte auch keinen Roman ausschließlich voller Sorge und Angst. In London haben die Leute zwar Angst vor dem nächsten Anschlag. Andererseits gehen sie nach der Arbeit in die Pubs oder amüsieren sich im Theater. In unserem Kopf haben wir doch immer verschiedene Abteilungen. In der einen ist Platz für den Terror, in der anderen für Ekstase und Freude zum Beispiel und das alles innerhalb von 24 Stunden."

So wie "Ulysses" von James Joyce oder "Mrs. Dalloway" von Virginia Woolf spielt auch "Saturday" an einem einzigen Tag – dem 15. Februar 2003, als in London die größte Friedensdemonstration aller Zeiten, eine Demonstration gegen den Einmarsch der USA und Großbritannien im Irak stattfand.

Doch für Perowne ist es zunächst ein ganz normaler Samstag. Er geht einkaufen, spielt Squash, besucht seine demenzkranke Mutter im Altersheim. 24 Stunden – das lässt Raum für eine große Bandbreite von Erlebnissen und Gefühlen.

Der Tag, der für Perowne so unbeschwert begonnen hat, nimmt eine unverhoffte Wendung. Anlass ist ein Autounfall, der eigentlich unbedeutend ist, aber Fahrer und Beifahrer bedrohen Perowne und wollen ihn zusammenschlagen. Er rettet sich, indem er erkennt, dass einer der beiden an einer tödlichen Hirnkrankheit leidet und ihm eine mögliche Heilungschance in Aussicht stellt, die es allerdings gar nicht gibt. Der so Gedemütigte überfällt abends die Familie, um sich zu rächen.

Der bedrohliche Einbruch in Perownes heile Welt kommt also gar nicht durch einen Terroranschlag zustande. Gefahr, so scheint es, lauert überall. Die private Idylle ist eine Fiktion:

McEwan: "Man kann sich nur bis zu einem gewissen Grad schützen, die Haustür verriegeln. Es geht in der gegenwärtigen Situation nicht nur um Waffen, Panzer, Politiker sondern auch um das eigene Leben. Deshalb ist es ja ein Thema für mich als Romanschriftsteller. Wir sind in Gefahr, und wir alle wissen das."

McEwan hat schon darüber nachgedacht, mit seiner Familie aufs Land zu ziehen.

"Aber das scheint mir wie eine Beleidigung des Geistes und der Intelligenz, wenn man gezwungen wäre, sein Leben auf diese Weise neu zu arrangieren."

Auch die Gesellschaft kann sich nur begrenzt schützen. Das Problem ist, dass wir die Grenzen unserer bürgerlichen Freiheiten neu abstecken müssen. Wie viel Macht wollen wir dem Staat überlassen? Was sind wir bereit aufzugeben?

McEwan: "Mit jedem neuen Anschlag untergraben wir unweigerlich bestimmte Prinzipien bürgerlicher Freiheiten. "

Das Eindringen von etwas Bedrohlichem in das eigene Leben ist ein Motiv in allen Romanen McEwans. Seine Figuren stürzt er literarisch in Krisensituationen, um, wie er sagt, daran die jeweiligen Charaktere zu studieren, die psychologischen Folgen. Der Effekt: Manchmal zieht er seine Leser bis zur Schmerzgrenze in die Handlung hinein.

So gesehen hat Literatur vielleicht keine Macht, aber eine starke Wirkung. Im Roman wird einer der beiden Einbrecher schließlich durch ein Gedicht besänftigt. Das Lesen von Gedichten, so McEwan, erzwinge einen Zustand des Mit-sich-Seins – etwas, das wir kaum noch kennen.

McEwan: "Da wir Einsamkeit kaum noch zulassen, wissen wir nicht, was wir tun sollen, wenn wir tatsächlich in eine solche Situation geraten. Die meisten Menschen greifen zur Fernbedienung sobald sie allein in einem Hotelzimmer sind. Und das ist ein fataler Fehler, denn dadurch reduziert sich der geistige Horizont."

Ist man aber allein mit sich, kann sich die Wirksamkeit von Literatur erst so richtig entfalten, jenes Vergnügen, das es bedeutet, wenn sich der geistige Horizont erweitert:

McEwan: "Man fühlt sich bereichert. Ich meine nicht in dem Sinn, dass es einen unbedingt weiterbringt - wie Sport etwa. Es bedeutet eher ein ganz besonderes Vergnügen. Und genau darum geht es mir."

Die Idee, mit dem neuen Roman ein Buch zu schreiben, das in der Gegenwart spielt, hatte McEwan schon vor dem 11. September. Dass die Gegenwart dann allerdings so plötzlich auf schreckliche Weise interessant werden würde, konnte er nicht ahnen. Das Risiko, von der Gegenwart eingeholt zu werden, ist immer gegeben:

"Es ist ein Risiko, weil die Dinge ja weitergehen. Aber gerade weil ich einen bestimmten historischen Tag gewählt habe, ist es nicht so wichtig, was dann später passiert. Ich will ja zeigen, wie es uns oder einem Einzelnen an diesem Tag zu Beginn des Jahrhunderts gegangen ist. Es ist wie ein mikroskopischer Blick in die Psychologie unter realen historischen Bedingungen."

Dass die Hauptfigur ein erfolgreicher Neurochirurg ist, hat für McEwan eine besondere Bedeutung. Ihn faszinierte diese schwierige und gefährliche Arbeit, bei der immer Leben auf dem Spiel steht. Und noch etwas beeindruckte ihn an seiner Figur und dessen Beruf:

"Er ist ein Mann ohne Glauben, er hat Freude an materiellen Dingen und einen großen Respekt vor der Wissenschaft. Die Vorstellung, dass bloße Materie Bewusstsein hervorbringt, ist eines der großen Mysterien des Lebens – viel größer als jedes Mysterium in der christlichen Religion. Es gibt also ein metaphysisches Interesse - jeden Tag bei seiner Arbeit, was mich angezogen hat."

Zwei Jahre lang, während er an seinem Roman arbeitete, traf sich McEwan regelmäßig mit einem Hirnchirurgen, durfte bei Operationen dabei sein. Es stellte sich eine Gemeinsamkeit mit seiner Arbeit als Schriftsteller heraus:

"Es gibt eine Parallele. Gegen Ende des Romans operiert Henry Perowne den Mann, der seine Familie bedroht hat. Es ist eine Routineoperation. Aber sie erfordert größte Konzentration. Und ich lasse ihn darüber nachdenken, wie man sich in einem Zustand äußerster Konzentration aus Zeit, Raum und von seinem Ich lösen kann. Und das beschreibt den Akt des Schreibens, wenn er vollkommen ist, diese raren Momente, die nur manchmal gelingen. Dann allerdings befördert es einen aus der Gegenwart in eine Art von Zeitlosigkeit."

Ob sich der Autor manchmal selbst vor seiner überbordenden Phantasie fürchte, frage ich ihn. Doch das weist er strikt zurück. Die Realität sei viel schlimmer als das, was er schreibe. Und zu viel Mitleid mit seinen Figuren könne man sich als Autor nicht erlauben:

"Graham Greene beschreibt es so: der Autor benötigt ein Stück Eis in seinem Herzen."

Perowne führt mit seiner Tochter eine ziemlich erbitterte Diskussion über den bevorstehenden Einmarsch der USA im Irak. Während sie strikt dagegen ist, argumentiert er, dass es nicht ausschließlich um Krieg oder Frieden gehe, sondern auch darum, ein Volk von einem brutalen Regime zu befreien. Über die Entwicklung hin zu einem Bürgerkrieg wäre auch seine Hauptfigur deprimiert, sagt ihr Schöpfer. Für die Deutschen, die im Gegensatz zu den Briten noch keinen Terroranschlag erlebt haben, hat er folgenden Rat:

"Hört endlich auf mit der Nabelschau und übernehmt eine größere Rolle in der Welt!"
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