Wenn die Kälte klirrt
Wenn das Thermometer in beunruhigende Minusgrade sinkt, wird alsbald behauptet, nunmehr herrsche klirrende Kälte. Wieso aber klirrend? Das so bezeichnete Geräusch entsteht, wenn metallene oder irdene Gegenstände aneinanderstoßen. Das hört sich bei Kälte, auch sehr strenger, nicht viel anders an als bei Wärme. Es klirrt hier wie dort. Was also soll bei Kälte klirren? Der Schnee keinesfalls und das Eis auf Flüssen und Seen auch nicht; Letzteres knirscht und kracht. Die Kombination von Klirren und Kälte ist Unsinn.
Beim Verhältnis der Sprache zur Wirklichkeit möchte es um größtmögliche Annäherung gehen. Fehlleistungen und Fehlgriffe unterlaufen freilich. Sie unterlaufen immer wieder, was in unserem Zeitalter der elektronisch multiplizierten Geschwätzigkeit beunruhigende Dimensionen erreichen kann, da der naive Glauben herrscht, dass, was über die Medien kommt, seine formale Richtigkeit haben müsse, irgendwie, sonst fände es doch nicht statt. Derart geschieht, dass sprachliche Unsitten sich ausbreiten und verfestigen.
Etwa die Wendung, jemand, nämlich ein Einzelner oder eine Gruppe, müsse oder wolle oder solle oder werde sich neu erfinden. Der bekannte Soziologe Jürgen Habermas sah darin den kitschigsten Slogan des letzten Jahrzehnts. Der Slogan ist nicht bloß kitschig, er ist außerdem, wie Kitsch sonst auch, ziemlich verfehlt.
Wer sich neu erfindet, müsste sich, folgend der sprachlichen Logik, schon zuvor einmal erfunden haben. Hat er das? Geht das überhaupt? Erfinden ist eine intellektuelle Handlung, die ein Subjekt an einem Objekt vollzieht. Können Subjekt und Objekt zusammenfallen? Bei Ereignissen wie Selbstgeißelung oder Rauschgiftapplikation mag das hingehen. Bei einem Vorgang wie der Erfindung träfe es allenfalls zu, wenn dieselbe in Selbstgeißelung oder Rauschgiftapplikation bestünde. Das aber ist mit der Wendung nicht gemeint. Ausgesagt werden soll vielmehr, dass jemand, der sich im beklagenswerten Zustand der Krise oder des Scheiterns befindet, einen Neuanfang probieren müsse. Alles andere ist Wortgetöse und, mit Habermas, erstklassiger Kitsch.
In politischen Äußerungen kommt seit Neuestem der Markenkern vor. Der Linkspartei sei es um denselben zu tun, man sucht ihn auch bei Unionsparteien und Freidemokraten. Kern ist: ein Inneres, umgeben von einem Äußeren. Bei Früchten und Gemüsen ist der Kern Medium der Fortpflanzung, umgeben von Schale und Fleisch. Der Kern kann auch als Metapher verwendet werden, aber das, was er metaphorisch benennt, möchte sich zu ihm in einem einigermaßen stimmigen Verhältnis befinden.
Was also ist ein Markenkern? Kann eine Marke einen Kern haben? Was ist hier Markenschale oder Markenfleisch? Es gibt Kernmarken bei Unternehmen, die mehrere Marken betreuen, und eine davon ist ihnen bedeutsamer als die anderen. Der Markenkern ist die semantische Umkehrung jenes Begriffs und der bare Nonsens.
Rolf Schneider ist Schriftsteller, Essayist, Publizist und stammt aus Chemnitz. Er war Redakteur der kulturpolitischen Monatszeitschrift "Aufbau" in Berlin (Ost) und wurde dann freier Schriftsteller. Wegen "groben Verstoßes gegen das Statut" wurde er im Juni 1979 aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen, nachdem er unter anderem zuvor mit elf Schriftstellerkollegen in einer Resolution gegen die Zwangsausbürgerung Wolf Biermanns protestiert hatte. Veröffentlichungen u. a. "November", "Volk ohne Trauer" und "Die Sprache des Geldes". Rolf Schneider schreibt gegenwärtig für eine Reihe angesehener Zeitungen und äußert sich insbesondere zu kultur- und gesellschaftspolitischen Themen.
Etwa die Wendung, jemand, nämlich ein Einzelner oder eine Gruppe, müsse oder wolle oder solle oder werde sich neu erfinden. Der bekannte Soziologe Jürgen Habermas sah darin den kitschigsten Slogan des letzten Jahrzehnts. Der Slogan ist nicht bloß kitschig, er ist außerdem, wie Kitsch sonst auch, ziemlich verfehlt.
Wer sich neu erfindet, müsste sich, folgend der sprachlichen Logik, schon zuvor einmal erfunden haben. Hat er das? Geht das überhaupt? Erfinden ist eine intellektuelle Handlung, die ein Subjekt an einem Objekt vollzieht. Können Subjekt und Objekt zusammenfallen? Bei Ereignissen wie Selbstgeißelung oder Rauschgiftapplikation mag das hingehen. Bei einem Vorgang wie der Erfindung träfe es allenfalls zu, wenn dieselbe in Selbstgeißelung oder Rauschgiftapplikation bestünde. Das aber ist mit der Wendung nicht gemeint. Ausgesagt werden soll vielmehr, dass jemand, der sich im beklagenswerten Zustand der Krise oder des Scheiterns befindet, einen Neuanfang probieren müsse. Alles andere ist Wortgetöse und, mit Habermas, erstklassiger Kitsch.
In politischen Äußerungen kommt seit Neuestem der Markenkern vor. Der Linkspartei sei es um denselben zu tun, man sucht ihn auch bei Unionsparteien und Freidemokraten. Kern ist: ein Inneres, umgeben von einem Äußeren. Bei Früchten und Gemüsen ist der Kern Medium der Fortpflanzung, umgeben von Schale und Fleisch. Der Kern kann auch als Metapher verwendet werden, aber das, was er metaphorisch benennt, möchte sich zu ihm in einem einigermaßen stimmigen Verhältnis befinden.
Was also ist ein Markenkern? Kann eine Marke einen Kern haben? Was ist hier Markenschale oder Markenfleisch? Es gibt Kernmarken bei Unternehmen, die mehrere Marken betreuen, und eine davon ist ihnen bedeutsamer als die anderen. Der Markenkern ist die semantische Umkehrung jenes Begriffs und der bare Nonsens.
Rolf Schneider ist Schriftsteller, Essayist, Publizist und stammt aus Chemnitz. Er war Redakteur der kulturpolitischen Monatszeitschrift "Aufbau" in Berlin (Ost) und wurde dann freier Schriftsteller. Wegen "groben Verstoßes gegen das Statut" wurde er im Juni 1979 aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen, nachdem er unter anderem zuvor mit elf Schriftstellerkollegen in einer Resolution gegen die Zwangsausbürgerung Wolf Biermanns protestiert hatte. Veröffentlichungen u. a. "November", "Volk ohne Trauer" und "Die Sprache des Geldes". Rolf Schneider schreibt gegenwärtig für eine Reihe angesehener Zeitungen und äußert sich insbesondere zu kultur- und gesellschaftspolitischen Themen.

Rolf Schneider, Schriftsteller und Publizist© Therese Schneider