"Wenn die Gondeln Trauer tragen"

Zum Tod des Regisseurs Nicolas Roeg

Regisseur Nicolas Roeg 2012 in London.
Erst Kameramann, dann Regisseur: Das Werk von Nicolas Roeg ist geprägt von starker Bildsprache und ungewöhnlichen Kameraperspektiven. © picture alliance/dpa/Foto: Ian West
Von Bernd Sobolla · 24.11.2018
Er war das Vorbild für Regisseure wie Ridley Scott und François Ozon: der Brite Nicolas Roeg. Bevor er selbst Filme drehte, arbeitete er als Kameramann und Assistent. Nun ist der Filmemacher im Alter von 90 Jahren gestorben.
Mit "Performance" gibt Nicolas Roeg, der 1928 in London geboren wurde, sein Regie-Debüt. In dem Werk von 1970 spielt Mick Jagger einen Ex-Rockstar, der mit zwei Frauen in einer Dreierbeziehung in London wohnt und ohne es zu wissen, einem gesuchten Gangster Unterschlupf gewährt. Schon hier zeigen sich Roegs Themen: Der Zusammenprall unterschiedlicher Lebensstile, die Macht des Schicksals, Sinnlichkeit und Erotik. Das Ganze erzählt mit chronologischen Sprüngen aber ohne Happy End.

Arbeitete mit John Schlesinger und François Truffaut

Zwar ist er zu dieser Zeit noch ein Regie-Neuling, aber schon seit 20 Jahren in der Filmbranche: Als Kameramann und Assistent arbeitete er zuvor für Filmemacher wie Fred Zinnemann, Richard Lester, John Schlesinger oder François Truffaut, wirkte an Klassikern wie "Casino Royale", "Lawrence von Arabien" oder "Fahrenheit 451" mit. Aber nun beginnt seine Zeit als Regisseur. So dreht Roeg 1971 "Walkabout", ein Lieblingswerk vieler Kritiker. In dem Film werden ein heranwachsendes Mädchen und ihr Bruder von ihrem Vater in der australischen Wüste ausgesetzt. In höchster Not und ohne Wasser treffen sie auf einen 16-jährigen Aborigine, der sich auf dem Walkabout befindet - dem Initiationstrip.

Der Aborigine zeigt ihnen, wie man Wasser in der Wüste findet. Dann ziehen sie gemeinsam durch die Steppe, kommen sich näher, Zuneigung scheint zu entstehen. Aber letztlich bleiben sich der Mann des Naturvolkes und die bürgerlichen Kinder fremd. Eine grandiose Mischung aus Natureindrücken und Hellsehen, Zivilisationskritik und Entfremdung. Das Hellsehen thematisiert Roeg auch in dem Drama "Wenn die Gondeln Trauer tragen". Darin verliert ein junges Paar, gespielt von Julie Christie und Donald Sutherland, seine Tochter.
Szene aus dem Film "Walkabout" von Nicolas Roeg, in der die Kinder in der australischen Wildness zu sehen sind.
Szene aus dem Film "Walkabout" von Nicolas Roeg, in der die Kinder in der australischen Wildness zu sehen sind.© imago stock&people
"Zwischen gestern und heute passiert plötzlich etwas, womit sie nicht gerechnet haben, das die Zukunft beeinflusst und mit dem sich die Zukunft völlig verändert", sagte Nicolas Roeg zu seinem Werk.

"Es ist viel interessanter, Realität zu finden als sie zu erfinden"

Während der Vater, ein Restaurator, Dias sortiert, wirft er ein Glas um. Auf dem Dia bildet sich ein blutroter Streifen. Er ahnt das Unheil, rennt zum Gartenteich, doch es ist zu spät. Etwas später geht das Paar nach Venedig, wo der Mann eine Kirche restauriert. Dort lernen sie eine alte blinde Dame kennen, die behauptet, Kontakt mit der verstorbenen Tochter zu haben.
Nicolas Roeg:
"Im Leben ist alles miteinander verbunden. Das Filmemachen ist vergleichbar mit einem Maler, der Gottes Werke malt. Ich versuchte, die Dinge einfach laufen zu lassen. Denn es ist viel interessanter, Realität zu finden als sie zu erfinden."

Faszinierender Schnitt und nicht-lineare Erzählstruktur

In Venedig finden die Eheleute aber auch wieder zueinander – auch sexuell. Roeg inszenierte dabei eine freizügige Liebesszene, die in die Filmgeschichte eingeht, weil sie so überzeugend wirkt, dass Gerüchte entstehen, Julie Christie und Donald Sutherland hätten den Sex nicht nur gespielt. Zudem fasziniert der Schnitt, der häufige Wechsel zwischen Liebesspiel und Nachhinein.
Nicolas Roeg:
"Sie haben ein Kind verloren, das Schlimmste was dir im Leben passieren kann. Du fühlst dich wie erstarrt und willst mit niemandem mehr Kontakt haben. Und dann gibt es diesen Moment, wenn sie wieder leben. Und plötzlich weißt du, dass es Hoffnung gibt."
Selten erzählt Nicolas Roeg seine Geschichten linear. Vielmehr wechseln sich Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit ab, Gedanken, Ahnungen und Assoziationen. So entsteht eine spannungsgeladene Atmosphäre. Roeg geht es aber nie um Spannung als Selbstzweck: Er reflektiert in seinen Filmen über die Menschen und ihre Suche nach Lebenssinn. So schickt er 1976 in dem Science-Fiction "Der Mann, der vom Himmel fiel" David Bowie als Außerirdischen auf die Erde.
David Bowie in "Der Mann, der vom Himmel" festgebunden auf einem Laborstuhl in Schräglage. Im Hintergrund sind drei Wissenschaftler in weißen Kitteln zu sehen. 
Filmszene mit David Bowie aus "Der Mann, der vom Himmel fiel"© imago stock&people
Hier findet er Wasser und eine Frau, die ihn liebt. Aber er zerbricht an der Oberflächlichkeit der Menschen.
Filmausschnitt "Der Mann, der vom Himmel fiel":'
"Sage mir eine Sache, die du auf deinem Planeten hast und die wir auf unserem nicht haben! … Ihr habt da oben kein Geld, ihr habt kein Wasser und ihr habt kein Gras. Alkohol habt ihr auch nicht. Warum willst du in eine Wüste zurückgehen?"

Filme, die nichts von ihrer Kraft verloren haben

Nicolas Roeg versteht es aber auch, Witz und Drama zu vereinen. So führt er in "Insignificance" Marylin Monroe und Albert Einstein in ein New Yorker Hotelzimmer zusammen, wo sie ihm die Relativitätstheorie erklärt. 2008 dreht er seinen letzten Film, das mystische Drama "Puffball". Mit Nicolas Roeg verlieren wir einen der innovativsten europäischen Filmemacher, dessen Filme auch nach Jahrzehnten nichts von ihrer assoziativen Kraft verloren haben und deren Bildsprache mit den ungewöhnlichen Kameraperspektiven bis heute faszinieren.
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