"Wenn die Erinnerung endet, beginnt die Geschichte"

Von Carsten Probst |
Spanien führt derzeit eine erregte Debatte um die Erinnerung und die Folgen des Franco-Regimes für die spanische Gesellschaft. "Der spanische Bürgerkrieg 70 Jahre später" lautete der Titel einer Podiumsdiskussion im Berliner Instituto Cervantes. Die verborgenen Hintergründe dieses Krieges, darin war man sich einig, werden die spanische Gesellschaft noch lange belasten.
Als Deutschland nach seiner Wiedervereinigung in den Wirrungen der geöffneten Stasiarchive zu versinken drohte, kamen aus Spanien verwunderte Kommentare. Wie können sich die Deutschen das antun und so selbstzerstörerisch in ihrer Vergangenheit wühlen. Seht her, wir Spanier, wir haben unsere Vergangenheit mit einem "Pakt des Schweigens" besiegelt, wir haben uns solche Dramen erspart.

In der Tat, der Spanische Bürgerkrieg und seine Verwerfungen wurden in der postfranquistischen Zeit systematisch beschwiegen. Man wollte die junge spanische Demokratie nicht gefährden, indem man alte Wunden aufrisse und alten Hass hochkochen ließe. So schien es jedenfalls Konsens geworden zu sein.

Heute, zehn Jahre später, erlebt Spanien plötzlich doch eine erregte Debatte um die Erinnerung und die Folgen des Franco-Regimes für die spanische Gesellschaft. Manche sprechen schon von einem wahren Erinnerungsboom, aber die Diskutanten heute Abend im Berliner Instituto Cervantes sind in ihrer Einschätzung des großen Erinnerungsdiskurses eher zurückhaltend. Der Philosoph Manuel Reyes Mate kann überhaupt keine klare Kontur darin erkennen.

Reyes Mate: " Das ist ein äußerst diffuses Phänomen. Wir erleben zwar, dass die Regierung ein Gesetz zur Historischen Erinnerung auf den Weg gebracht hat, aber zugleich weiß sie auch nicht so recht, was sie mit diesem Gedenken anfangen soll. Von nicht wenigen Opfern des spanischen Bürgerkrieges wird der Republikanismus ja in Frage gestellt. Für sie ist die Republik nur eine postfranquistische Erfindung, sie denken, dass diese Form der Erinnerung eigentlich eine historische Wahrheit verfälschen soll. Die Argumentation wird auch deshalb so konfus, weil diese Opfergruppen natürlich nicht für die Gegenwart sprechen, sondern sie repräsentieren im Wesentlichen die Opfer der Vergangenheit."

Tatsache ist, dass niemand so genau weiß, wer mit der angeblichen Wahrheit über den Spanischen Bürgerkrieg eigentlich welche Interessen verfolgt. Nicht wenige glauben, dass eigentlich die konservative Volkspartei unter dem früheren Ministerpräsidenten Julio Aznar die Debatte schon Mitte der neunziger Jahre betrieben hat, um die Francodiktatur nachträglich zu verharmlosen und Spanien als ein Land darzustellen, das stolz sein könne auf die Geschichte. Doch der renommierte Historiker Julio Arostegui ist da ganz anderer Ansicht:

Arostegui: " Warum eigentlich wurde diese Debatte nicht direkt nach dem Tod des Diktators Franco geführt? Warum wurde sie nicht in dem Moment begonnen, da die "transición" einsetzte? Warum führen wir die Debatte nach fünfzig Jahren, in denen kaum noch einer der Zeitzeugen lebt? Ich werde Ihnen meine Ansicht dazu sagen. Es ist so, weil die Debatte nicht gewollt wurde von der Sozialistischen Partei Spaniens, als sie an die Macht kam. Es gab durchaus keinen "Pakt des Schweigens", wie es immer heißt. Die Sozialistische Partei hatte ein Interesse daran, die Vergangenheit zu begraben, aus verschiedenen Gründen. Sie wollte den Anfang der Demokratie nicht belasten. Sie hielt die Debatten für unzumutbar, sie hatte auch Angst vor ihnen. Felipe Gonzales, der Ministerpräsident, hat dies selbst später eingestanden. Die heutige Situation kann niemanden verwundern. Denn es ist die Generation der Enkel, der Unbelasteten, die jetzt neue Erkenntnisse über die wahre Geschichte des spanischen Bürgerkriegs verlangt, und wissen will, welchen Preis der Krieg für das Land gehabt hat."

Bei allen möglichen Deutungen ist indes auffallend, dass es in Spanien derzeit keine intellektuellen Wortführer gibt, die zumindest einen gewissen Konsens zwischen den verschiedenen Lagern formulieren könnten. Ein Gesetz zur Historischen Erinnerung, das die spanische Regierung alsbald zu verabschieden plant und das eine Art offizieller Lesart der Geschichte präsentieren soll, die Versöhnung und Vergebung unter den einst verfeindeten Lagern ermöglicht, wird allenthalben zwar als ambitioniert, aber doch eher als ein Ausdruck von Hilflosigkeit wahrgenommen. Von wirklicher Aufarbeitung, so bilanziert der deutsche Spanien-Historiker Sören Brinkmann, ist die Gesellschaft noch weit entfernt.

Sören Brinkmann: " Man spricht davon, dass bis heute um die 30.000 Opfer franquistischer Repression, insbesondere aus der Zeit des Bürgerkrieges, also der drei Jahre von 1936 bis 39, immer noch anonym beerdigt worden sind, zumeist an den Orten, wo sie dann auch hingerichtet worden sind. Diese Orte liegen in der Regel alle in der spanischen Provinz, in Dörfern oder außerhalb dieser Dörfer, auf Feldern oder in Straßengräben, und das ist sicherlich ein Zustand, der nach Aufarbeitung ruft. Eindeutig ist das, was da im Augenblick in Spanien in Gange gekommen ist, keineswegs falsch. Das Tragische ist die Tatsache, dass es eben für die eigentlich Betroffenen viel zu spät geschieht."

Zumal jene 30.000 anonymen Opfer, die noch immer nicht exhumiert wurden, zumeist Republikaner sind, während die Opfer der Diktatur zumeist bereits kirchliche Bestattungen erfahren haben. Es sind diese oft noch verborgenen Hintergründe, die die spanische Gesellschaft noch weitere Jahrzehnte belasten werden. Wenn es einen Konsens an diesem Abend gab, dann darin.