Wenn der Körper erlahmt

Vorgestellt von Susanne Nessler |
Was würdest du tun, um deinen Bruder zu retten? Das Unmögliche versuchen? Jamie Heywood, ein amerikanerischer Ingenieur Anfang 30, steht vor dieser Frage, als er erfährt, dass sein Bruder Stephen an der unheilbaren Krankheit ALS leidet. Bei ALS, amyothropher Lateralsklerose sterben die Nervenzellen ab, die die Bewegungen aller Muskeln steuern. Der Körper erlahmt innerhalb weniger Jahre.
Auch Stephen, begeisterter Handwerker und Gebäuderestaurateur wird immer schwächer, er wird sterben. Und sein Bruder Jamie tut alles, um das zu verhindern.

"Ich werde eine Therapie finden." Jamie wusste, dass Stephen möglicherweise nur noch ein bis zwei Jahre bis zum Rollstuhl blieben. Wollte er ihn vorher retten, musste er die Behandlung innerhalb eines Jahres beginnen, also Anfang 2000. Voraussetzung dafür war, dass er die ALS-Spezialisten dazu bewegen konnte, bis Ende 1999 eine neue Methode zu testen. Dies konnte ihm aber nur gelingen, wenn er schleunigst eine zündende Idee hatte. Es blieb also praktisch keine Zeit. "

Jamie findet eine Möglichkeit. Und er findet Forscher und Ärzte, die bereit sind diese auszuprobieren. Stephen soll mit einer neuen Gentherapie gerettet werden.
Ein Wettkampf gegen die Zeit und gegen alle Regeln der Wissenschaft beginnt.

" Ich fragte Stephen, wie er sich genau gefühlt habe, als Jamie ihm sein ehrgeiziges Projekt erläuterte. "Es ist nicht so, dass ich den Plan für unmöglich hielt. Aber ich hatte durchaus meine Zweifel." Stephen schaute mich nachdenklich an. "Aber es spielte gar keine Rolle, was ich von seinem Vorgehen hielt. Jamie war so besessen, dass er sich durch nichts aufhalten ließ."

Die Geschichte von Jamie und Stephen hat sich vor einigen Jahren tatsächlich ereignet. Sie ist echt.
Jonathan Weiner, Wissenschaftsjournalist und Pulitzer-Preisträger hat sie aufgeschrieben. Eine Geschichte von den Grenzen der Medizin, an der der Journalist persönlich beteiligt ist. Er begleitet Jamies Kampf gegen die Krankheit seines Bruders über mehrere Jahre.
Weiner wohnt wochenlang bei der Familie Heywood, steht mit allen beteiligten Wissenschaftlern in engem Kontakt und telefoniert zeitweise mehrmals täglich mit Jamie.
Er zweifelt, ist emotional berührt und bewundert Jamies grenzenlosen Einsatz. Und gleichzeitig weiß er, dass er sich das als Journalist und Autor nicht erlauben darf. Er muss ein objektiver Bebachter bleiben, um die Geschichte zu schreiben. Das fällt ihm schwer, sagt er offen.

Dieses ehrliche Eingeständnis ist eine der ganz großen Stärken dieses Buches. Es spiegelt die gesamte Dramatik, die immensen Hoffnungen und Ängste der von Anfang zum Scheitern verurteilten Rettungsaktion wieder. Der Autor thematisiert über sich, die Gefühle der Menschen, die mit Jamie um Stephens Leben kämpfen. Er tut dies aber dezent, am Rande, ohne sich in den Mittelpunkt zu stellen. Damit bietet er dem Leser liebevoll die Möglichkeit sich ebenso emotional auf die Geschichte von Jamie Heywood und seinen Bruder einzulassen ohne sich darin zu verlieren.
Jonathan Weiner schreibt einfühlsam und anrührend, berichtet aber gleichzeitig über die umstrittenen Positionen und kritischen Aspekte des gentherapeutischen Verfahrens mit dem Jamie hofft seinen Bruder zu heilen.

" Als der Zeitpunkt für Stephens Injektionen näher rückte klang Jamie immer ängstlicher. Sie hatten zwei Affen menschliche Stammzellen injiziert und dabei keine offensichtliche Schäden angerichtet. Aber das waren auch schon alle Daten, auf die sie sich stützen konnten. "Es ist ein riskanter Eingriff", sagte Jamie. "Wirklich grenzwertig. Wir könnten ihn umbringen."

Der Heilversuch bleibt ganz ohne Wirkung.
Stephen akzeptiert seine Krankheit und die Folgen. Das hat er von Anfang an getan. Er heiratet und bekommt mit seiner Frau einen Sohn.
Doch Jamie gibt nicht auf. Seine Ehe zerbricht daran.
Er schafft es bis zum Schluss nicht, sich der schwierigen Auseinandersetzung von Krankheit und Tod als Angehöriger zu stellen.
Diesen inneren Konflikt bringt der Autor in vielen Gesprächen detailliert zur Sprache. Als Leser wünscht man sich im Verlauf der Erzählung immer häufiger, Jamie würde die Realität endlich akzeptieren. Man ängstigt sich mehr um ihn, als um den kranken Stephen, und ist gleichzeitig gefesselt von seinem unermüdlichen Einsatz.

Eine ergreifendes Buch, das die Hoffnungen an die moderne Medizin wieder spiegelt. Die Höhen und Tiefen biomedizinischer Forschung beschreibt, und moralische und ethische Fragen in der Wissenschaft thematisiert.
Seine Bruder Hüter ist eine herausragende Reportage über die Frage: In welchem Maß ist menschlichen Leben manipulierbar? Und zugleich die ergreifende Geschichte einer Familie in der Konfrontation mit Krankheit und Tod.
Ein großartiges Buch, ehrlich und spannend und trotz des schwierigen Themas voller Hoffnung.

Jonathan Weiner: Seines Bruders Hüter. Eine Geschichte an den Grenzen der Medizin
Aus dem Englischen von Maria Bühler und Doris Gerstner
Siedler-Verlag, 2005. 24,00 Euro