Wenn der Biograph eins wird mit seinem Protagonisten

20.08.2008
Über 20 Jahre hat Jochen Köhler an der Biographie Helmuth James von Moltkes gearbeitet. Sein Werk über den außergewöhnlichen Widerstandskämpfer im Dritten Reich blieb unvollendet. Trotzdem entschied sich der Verlag, das Buch wegen der Brillanz der Darstellung und des Stils zu veröffentlichen. Selten hat sich ein Biograph derart in seine Figur hineingefühlt wie Köhler. Fast wie ein Familienroman liest sich seine Darstellung der Kindheit und Jugend Moltkes.
Da wird ein Autor, er heißt Jochen Köhler, einfach nicht fertig mit seinem Text; arbeitet sich ab an dem Mann, den er biographisch erfassen will, der heißt Helmuth Moltke - über Jahre und Jahre geht das. Da läuft sein Lektor, er heißt Alexander Fest, hinter dem Autor her, Jahr um Jahr. Da zerstreiten sich Autor und Lektor. Und dann kommt das Buch doch.

Der Lektor ist inzwischen Verleger, der Autor ist über das Buch verstorben, es ist unvollendet - doch es ist ein Meisterwerk. Und der Verleger verlegt. Das ist in dürren Worten die Geschichte des Autors Jochen Köhler und des Rowohlt-Verlegers Alexander Fest, der, damals Lektor des Siedler Verlages, mit Köhlers Buch-Projekt das erste Mal 1991 zu tun hatte. Könnte es eine schönere Buchgeschichte geben, wenn das Buch eine Biographie über Helmuth James Moltke ist?

Dem Helmuth James Graf von Moltke, geboren am 11. März 1907 in Kreisau, hingerichtet am 23. Januar 1945 in Berlin, hätte diese Buchgeschichte wohl gefallen. Auch er fiel ja reichlich aus dem Rahmen - der Träger des deutschen Militärnamens: Der Urgroßonkel Generalfeldmarschall Helmuth Carl Bernhard war der Stratege der deutschen Einigungskriege Bismarcks, der Onkel Helmuth Johannes Ludwig hatte in gleicher Funktion im Ersten Weltkrieg wenig Fortune. Und dieser Urgroßneffe und Neffe wird zum Denker des Widerstandes gegen Hitler, fügt dem militärischen Widerstand der Stauffenbergs und Tresckows und Becks die zivile Note zu: Auf seinem Gut Kreisau werden Konservative mit Sozialdemokraten und Gewerkschaftern zusammengeführt und entwerfen die Konzepte für ein Deutschland nach Hitler.

Das aber und die Rolle von Helmuth James Moltke im Widerstand kommt in Jochen Köhlers Biographie nur am Rande vor, wenn er mal einen kleinen Blick in die Zukunft wirft - schließlich musste sie unvollendet bleiben und widmet sich so "nur" der "Geschichte einer Kindheit und Jugend": Kinderjahre auf Gut Kreisau, Studium in Berlin, 1927/28 der Kampf für die verarmten Bergarbeiter im schlesischen Kohlerevier von Waldenburg: die ersten politischen Erfahrungen.

Mit dem Machtantritt der Nazis reißt das Buch ab, enden Kindheit und Jugend des Grafen Moltke, der als junger Jurist zwei Monate in einem militärisch-weltanschaulichen Ausbildungslager die neue nationalsozialistische Lehre pauken soll - und sich da schon wehrt, wenn er ein Grammophon heranschleppt. Da legten sich dann alle auf die Betten, "totenstill" und hörten Bach, Brahms, Beethoven: "Ein eklatanter Triumph des Geistes".

Natürlich würden wir jetzt gerne weiter lesen, wie der Jurist Moltke, der Sachverständige für Kriegs- und Völkerrecht, mit Peter Yorck von Wartenburg zum führenden Kopf des Kreisauer Kreises wurde und sein Leben schließlich in Berlin-Plötzensee im Kampf gegen den Ungeist ließ. Doch starb dafür Jochen Köhler 2007 zu früh - geboren 1944 und bekannt geworden durch sein Buch über die einfachen Leute im Berlin der Nazizeit: "Klettern in der Großstadt", 1979 erschienen.

Das Unvollendete schmälert aber nicht die Leistung dieses Werkes, in dem wir erfahren, wie jemand mental und moralisch beschaffen war, der zu den wichtigsten Opponenten der Nazis gehörte. Wann ist jemals eine Kindheit und Jugend so liebevoll beschrieben worden?

Jochen Köhler hat über die Jahre das Vertrauen der Familie Moltke gewonnen - und sich dessen mehr als würdig erwiesen. Er profitiert von Gesprächen mit den Moltkes, darunter der Witwe Freya, geborene Deichmann, die selber so Kluges über ihren Mann und den Widerstand geschrieben hat.

Dabei ist Jochen Köhler selber ein halber Moltke geworden, ohne sich an die Familie ranzuschmeißen, nennt mit liebevoll ironischem Unterton die südafrikanischen Großeltern stets nur "Granny" und "Daddy", die Kreisauer Eltern "Papi" und "Dorothy" - wobei Letztere zu den Mitbegründern von "Christian Science" in Deutschland gehörten, der amerikanisch-christlichen Gemeinschaft.

Wie Jochen Köhler vor allem anhand der wöchentlichen Briefe, die Moltkes Mutter Dorothy an ihre südafrikanische Mutter, die "Granny", schrieb, eine Adelsfamilie im Übergang von Monarchie zur Republik zeichnet, in der dem kleinen Helmuth James das innere Koordinatensystem wuchs, das liest sich über weite Strecken wie ein Familienroman von höchsten stilistischen Gnaden. Das geht so unter die Haut, dass man "The boy", wie Mutter Dorothy ihren Ältesten nannte, neben sich spielen sieht, wenn man das Buch liest - und man denkt, man liest es im Feldmarschall-Gedenkzimmer in Schloss Kreisau. Und gleich setzt sich "The boy" aufs Pferd und reitet auf die Güter von Verwandten der näheren Umgebung.

Jochen Köhler hat sich hinein gelebt in "The boy", er ist hineingeschlüpft in den kleinen Helmuth James, dann in den größer und politisch werdenden. Hier ist einer Jahre schwanger gegangen mit seinem Protagonisten. Und es hat sich gelohnt.

Rezensiert von Klaus Pokatzky


Jochen Köhler: Helmuth James Moltke - Geschichte einer Kindheit und Jugend
Rowohlt Verlag, 2008
400 Seiten. EUR 22,90
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