Wenn der beste Freund die Frauen ausspannt

Maarten 't Hart schaut gerne zurück, schwelgt in Erinnerungen an seine Kindheit. Fast wie Nachrufe auf das längst untergegangene Holland seiner Jugend erscheinen die Romane des Schriftstellers. So auch sein jüngster "Der Schneeflockenbaum". Darin findet sich erneut die unvermeidliche Auseinandersetzung des streng protestantisch Aufgewachsenen mit der calvinistisch geprägten Welt des Kleinbürgertums in all ihrer verbiesterten Gläubigkeit. Allerdings in typisch humorvoller 't Hartscher Form.
So entdeckt der Ich-Erzähler in seiner Kindheit, dass sich in der Heiligen Schrift zum Beispiel kein Wort darüber finden lässt, dass man beim Beten die Augen zu schließen hat, wie der Lehrer behauptet und bei Zuwiderhandlungen mit Prügel bestraft. Auch über Libellen schweigt die Bibel, obwohl sie doch über jedem Entwässerungsgraben schweben. Ein guter Grund für den Jungen daran zu zweifeln, "dass die Bibel eine Richtschnur für das ganze Leben darstellte", wie der Pastor behauptete.

Maarten 't Hart verfügt über ein unglaublich umfassendes Bibel- und Gesangsbuchwissen. In jedem seiner Romane, also auch diesem, seziert er mit freundlicher Ironie kirchliche Heuchelei. Obwohl der Schriftsteller die Kirche schon seit Langem verlassen hat, kann er von ihr nicht lassen. Vor allem ihre Musik hat ihn geprägt, sodass er bis heute leidenschaftlich die Orgel seiner Gemeinde malträtiert. Und auch sein Erzähler im Roman liebt diese Musik, allerdings auch die weltliche, die aus der Sicht seiner Mutter eine Sünde ist, denn Gott akzeptiere nur kirchliche Gesänge.

Der Protagonist, der anlässlich der Beerdigung seines Stiefvaters auf seine Jugend zurückschaut, hatte es in seiner Kindheit nicht leicht. Schon als Kleinkind produziert er so viel Winde, dass sich die meisten anderen Kinder mit Grausen von ihm wenden. Nur Jouri, der Nachbarsohn, hält zu ihm. Allerdings spannt er ihm dafür von der Sandkiste an alle weiblichen Wesen aus, denen er jemals begegnet.

Es ist wie ein Fluch. Sobald sich unser Protagonist verliebt hat, unternimmt sein Freund alles, um die Angebetete für sich zu gewinnen und das gelingt auch stets, ist doch Jouri ein charmanter, redegewandter und intelligenter junger Mann, der denn auch eine große Karriere macht. Also versucht der Erzähler, seine jeweils jüngste Eroberung vor dem Freund geheim zu halten. Selbst als Jouri schließlich eine dieser Frauen heiratet, traut er dem Frieden nicht und versucht seine Freundin und spätere Frau vor ihm zu verbergen.

Allerdings zeigt sich schon bald, dass der stets Versetzte, schmählich Betrogene kein ganz so argloser und harmloser Zeitgenosse ist, wie er uns anfangs vorspiegelt. Er zahlt es seinem Freund mit gleicher Münze heim. Spät erst begreift er, dass Jouri keineswegs der Glücklichere von ihnen beiden war.

Es ist vor allem Maarten 't Harts freundlichem Humor, seinem augenzwinkernden Verständnis für menschliche Schwächen, seinen skurrilen Einfällen zu verdanken, dass nie auch nur eine Sekunde Langeweile aufkommt. Das ist erstaunlich und große Kunst.

Besprochen von Johannes Kaiser

Maarten 't Hart: Der Schneeflockenbaum
Roman, aus dem Niederländischen von Gregor Seferens
Piper Verlag München 2010
413 Seiten. 19,95 Euro