Wenn das Leben hinterfragt wird

Rezensiert von Michael Schornstheimer · 29.11.2005
"Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn" von Viktor Frankl zeigt einen Querschnitt durch das gesamte publizistische Werk des Autors auf dem Gebiet der Psychotherapie. Frankl sieht in der Frage nach dem Sinn des Lebens kein Symptom einer Krankheit. Im Gegenteil: Für ihn ist sie der Beweis des Menschseins.
Ein amerikanischer Arzt fragte Viktor Frankl einmal, ob er imstande sei, ihm in einem Satz den Unterschied zu erklären zwischen Psychoanalyse und Logotherapie. Gewiss könne er das, antwortete Viktor Frankl, doch zunächst solle der Arzt ihm in einem Satz sagen, was Psychoanalyse ist.

"Nun, in der Psychoanalyse muss sich der Patient auf die Couch legen und Dinge sagen, die manchmal unangenehm zu sagen sind. Worauf Victor Frankl erwiderte: Sehen Sie, in der Logotherapie darf er sitzen bleiben - und muss Dinge anhören, die manchmal unangenehm zu hören sind."

Diese Anekdote, die in Frankls in Amerika erschienenem Hauptwerk, "Man's Search for Meaning", nachzulesen ist, hat er in einem Vortrag über "Das Leiden am Sinnlosen Leben" nochmals aufgegriffen. Sinn und Sinnlosigkeit sind Schlüsselbegriffe im Lebenswerk des Wiener Neurologen und Psychologen.

Sigmund Freud war noch davon überzeugt, dass ein Mensch, der nach dem Sinn und Wert des Lebens fragt, krank sei. Weil allein schon die Frage die unbefriedigte Libido eingestehe. Frankl hingegen sieht in der Frage nach dem Sinn des Lebens kein Symptom einer Krankheit. Im Gegenteil! Für ihn ist sie der Beweis des Menschseins:

"Im Gegensatz zum Tier sagt dem Menschen kein Instinkt, was er muss, und im Gegensatz zum Menschen in früheren Zeiten sagt ihm keine Tradition mehr, was er soll, und nun scheint er nicht mehr recht zu wissen, was er eigentlich will. So kommt es, dass er entweder nur will, was die anderen tun - und da haben wir den Konformismus - oder aber er tut nur, was die anderen von ihm wollen, und da haben wir den Totalitarismus."

Viktor Frankl, der vor 100 Jahren in Wien geboren wurde und im Alter von 92 Jahren dort gestorben ist, hat sich nicht nur "Professor auf 2 Gebieten", sondern auch "Überlebender von 4 Konzentrationslagern" genannt. In dem Sammelband mit Texten und Vorträgen erinnert er sich auch an den Winter 1945: In einer Häftlingskolonne schleppte er sich zum Arbeitseinsatz. Er war völlig entkräftet und dem Zusammenbruch nahe. An diesem Tiefpunkt entschloss er sich, in Gedanken einen Vortrag auszuarbeiten.

"Wer von denen, die das Konzentrationslager erlebt haben, wüsste nicht von jenen Menschengestalten zu erzählen, die da über die Appellplätze oder durch die Baracken des Lagers gewandelt sind, hier ein gutes Wort, dort den letzten Bissen Brot spendend? Und mögen es auch nur wenige gewesen sein - sie haben Beweiskraft dafür, dass man dem Menschen im Konzentrationslager alles nehmen kann, nur nicht die letzte menschliche Freiheit, sich zu den gegebenen Verhältnissen so oder so einzustellen. Und es gab ein so oder so."

Aus dem Vortrag in Gedanken entstand nach dem Krieg das Buch "Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager". In Auschwitz hat Viktor Frankl gelernt, die Frage nach dem Sinn des Lebens umzudrehen:

"Wir müssen lernen und die verzweifelnden Menschen lehren, dass es eigentlich nie und nimmer darauf ankommt, was wir vom Leben noch zu erwarten haben, vielmehr lediglich darauf: Was das Leben von uns erwartet."

Auch der erbärmlichste Gefangene ist frei, meint Frankl. Er kann sich selbst transzendieren. Selbst-Transzendenz meint, dass der Mensch umso menschlicher ist, als er sich selbst übersieht und vergisst, "sei es in der Hingabe an eine Aufgabe, an eine Sache oder einen Partner". Und er kann sich von sich selbst distanzieren. Was das bedeutet, erläuterte Frankl gern mit einem Witz:

"Während des Ersten Weltkrieges saß ein jüdischer Militärarzt mit einem Oberst im Schützengraben, als ein heftiges Feuer einsetzte. Ihn hänselnd fragte der Oberst: Jetzt haben Sie aber Angst, nicht wahr? Da sieht man wieder einmal, wie sehr die arische Rasse der semitischen überlegen ist. Worauf der Militärarzt antwortete: Sicher habe ich Angst. Aber warum sprechen Sie von der Überlegenheit der einen Rasse gegenüber der anderen? Wenn Sie soviel Angst hätten wie ich, wären Sie vielleicht schon längst auf und davon gelaufen."

Am Leiden, glaubte Viktor Frankl, können Menschen reifen und wachsen. Leiden bedeutet nicht zwangsläufig Unglück!

"Erst unter den Hammerschlägen des Schicksals, in der Weißglut des Leidens an ihm, gewinnt das Leben Form und Gestalt."

Einen Patienten, der über den Verlust seiner Frau nicht hinwegkam, machte Frankl einmal darauf aufmerksam, dass im ungekehrten Fall seine Frau ebenfalls gelitten hätte. Dadurch, dass sie vor ihm starb, blieb ihr das Trauern erspart. So bekam der Schmerz des Mannes einen Sinn. Seine Einstellung zum Tod seiner Frau wandelte sich. Das ist der Kern von Logotherapie, der sogenannten "Dritten Wiener Richtung der Psychotherapie". Die kleine Textauswahl macht neugierig auf Frankls Gesamtwerk.


Viktor Frankl: Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn.
Piper München,
292 Seiten, 14,90 Euro.